Handelsblatt, 28.07.2015

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KAMPF GEGEN IS UND PKK
Erdogan, der Unverfrorene


Autor:
Pierre Heumann
Datum:
28.07.2015 20:54 Uhr
Im Kampf gegen den Islamischen Staat wollen die Türkei und die USA künftig zusammenarbeiten. Beide Parteien verfolgen mit ihrer Kooperation unterschiedliche Ziele. Das führt zu neuen Konfliktherden.

Im Kampf gegen den Islamischen Staat verfolgen Ankara und Washington eine neue Strategie. Die Türkei bombardiert neuerdings Stellungen in Syrien und erlaubt amerikanischen Bombern, von türkischen Stützpunkten aus Ziele in Syrien anzugreifen. Die US-Jets sollen von türkischer Artillerie unterstützt werden. Die gemeinsamen Militäraktionen verfolgen aus türkischer Sicht das Ziel, im Norden Syriens eine Sicherheitszone einzurichten. Dorthin soll ein Teil der rund zwei Millionen syrischen Flüchtlinge zurückkehren, die aus ihrem Land vertrieben wurden.
Doch Ankara verfolgt mit der neuen Strategie nicht in erster Linie humanitäre Ziele. Die türkische Regierung will mit der Einrichtung der Sicherheitszone vor allem verhindern, dass an der Grenze zu Syrien und zum Irak ein kurdisch verwaltetes Gebiet oder gar ein kurdischer Staat entsteht. Die neue Politik Ankaras legt deshalb die Grundlage für einen neuen Krieg, mit dem die Gründung Kurdistans verhindert werden soll.

Gemeinsames Vorgehen hin oder her: Washington und Ankara verfolgen in Syrien völlig unterschiedliche, ja sich widersprechende Interessen und Ziele. Die Türkei spricht von einer Flugverbotszone über Nord-Syrien, in den USA ist darüber nichts Verbindliches zu hören. Während es Washington auf den Islamischen Staat abgesehen hat und dessen Stützpunkte angreifen will, nimmt Ankara vor allem die Truppen von Syriens Präsidenten Bashar Assad ins Visier. Denn bei der Beurteilung der Gegner ist man sich nicht einig. Assad ist aus Sicht der USA das kleinere Übel als der Islamischen Staat. Für Ankara ist der IS hingegen nützlicher als der syrische Herrscher, weil der Islamische Staat einem Erstarken der Kurden entgegenwirkt.

Recep Tayyip Erdoğan hat sich zwar dem Kampf des Westens gegen den IS angeschlossen. Aber nur vordergründig. Schlau benutzt Erdoğan die aufgeheizte Stimmung im Nahen Osten, um gegen die Kurden vorzugehen. Der Friedensprozess mit den Kurden ist von ihm bereits gekündigt. Am Wochenende bombardierten türkische Kampfjets PKK-Stellungen im nördlichen Irak. Fast gleichzeitig verhafteten türkische Behörden mehr als 1000 Menschen, denen Beziehungen zu Kurden, dem Islamischen Staat oder anderen Terrorgruppen nachgesagt wurden.

Die Türkei wäre aufgrund ihrer geografischen Lage eine Schlüsselnation für den Kampf gegen den IS. Doch Erdoğan hat bisher darauf verzichtet, dem IS den Nachschub abzuschneiden. Er ließ Dschihadisten stets unbehelligt nach Syrien ziehen und drückte beide Augen zu, wenn sich der IS im Geschäft mit türkischen Händlern die Kriegskasse füllte.

Auch nach dem Selbstmordattentat in der türkischen Stadt Suruc, das gleich dem IS zugeschrieben wurde, hat Ankara seine bisherige Nachsicht gegenüber dem IS nicht merklich verändert. Erdogan weiß: Wo immer der IS zurückgedrängt wird, versuchen Kurden, in die frei gewordenen Gebiete vorzudringen. Und das will Erdoğans um jeden Preis verhindern.
Seine Karten sind nicht schlecht. Ein Ende des IS in Syrien zeichnet sich nicht ab. Die Schlagkraft der Allianz gegen den IS leidet darunter, dass Assad jetzt öffentlich über seine Probleme spricht. Denn Assads Schwäche ist stets auch die Stärke des IS. Die Streitkräfte der syrischen Regierung seien ungenügend dotiert, sagte Assad, es würden ihm Truppen fehlen und seine Regierung müsse bereit sein, Teile des Staatsgebietes aufzugeben. Seine Armee, schätzen Nachrichtenagenturen, habe sich seit Beginn des Bürgerkriegs halbiert. Dass er dringend neue Soldaten braucht, zeigte bereits letzte Woche seine Amnestie für Dienstverweigerer. Beobachter gehen davon aus, dass Assad die Küstenstädte behalten wolle; im Osten hat er bereits große Teile des Landes verloren. Ins Vakuum ist der IS vorgestoßen.

Nicht nur die divergierenden Interessen, Motive und Ziele schwächen die türkisch-amerikanische ad-hoc-Allianz gegen das „Kalifat“. Wirr ist auch die Kooperation der Verbündeten. So klagen zum Beispiel laut einem Bericht des Wall Street Journal kurdische Milizen, die mit Washington liiert sind, dass ihre Positionen in Syrien von der Türkei unter Beschuss genommen werden. Syrische Rebellen, die relativ gemäßigt sind und gegen Assad kämpfen, werden von den USA zwar unterstützt – aber offenbar nicht entschlossen genug. Bisher haben lediglich 60 syrische Rebellen das Pentagon-Programm durchlaufen, weiß die New York Times. Erst jetzt werde im US-Verteidigungsministerium darüber nachgedacht, welche und wie viele Rebellen von den USA trainiert werden sollen. Unklar ist auch, wo Washington die Abgrenzung zu islamistischen Gruppen ziehen will. Dass die meisten Rebellen vor allem am Sturz Assads und weniger an einem Ende des Islamischen Staates interessiert sind, erschwert den Entscheid, mit welchen Rebellengruppen die USA kooperieren wollen.

Ankara kann also auf die anhaltende Stärke des IS setzen. Und Erdoğan kann mit seiner doppelzüngigen Strategie ohne Angst vor Repressionen fortfahren. So kämpft er mit dem Westen gemeinsam gegen das „Kalifat“, aber nur dem Schein nach. Das hält ihm den Rücken frei, um gegen kurdische Nationalisten vorzugehen. Dabei ist er so unverfroren, dass er im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht nur den Beistand der Nato anruft, sondern gleichen Tages auch nach China abreist. Dort will er sich mit neuen Waffensystemen einzudecken. Dass diese nicht mit der Nato kompatibel sind, stört ihn keineswegs.