Die Zeit , 29.07.2015

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TÜRKEI
Die Angst vor dem Kurdenstaat
Die USA und die Türkei planen einen Sicherheitskorridor gegen den "Islamischen Staat". Am Ende könnten die Kurden die Verlierer dieser strategischen Allianz sein. VON CARSTEN LUTHER

29. Juli 2015 07:37 Uhr

Entlang der Grenze zur Türkei soll in Syrien ein Sicherheitskorridor entstehen, aus dem die Dschihadisten des "Islamischen Staats" (IS) vertrieben werden. So weit sind sich die Regierungen in Washington und Ankara offenbar einig. Monatelang hatten die Amerikaner die Türkei dazu gedrängt, die von ihnen geführte Koalition im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Inzwischen können sie türkische Luftwaffenstützpunkte für ihre Angriffe auf die Terrormilizen in Syrien nutzen. Auch fliegt die Türkei nun selbst Luftschläge gegen IS-Stellungen und geht gegen Unterstützer im eigenen Land vor. Eine erstaunliche Wende, hatte die Regierung doch die Entstehung des IS lange mindestens fahrlässig geduldet, wenn nicht gar unterstützt.

Die Pufferzone ist ein logischer nächster Schritt, um die Extremisten zumindest auf einer Länge von gut 100 Kilometern abzuschneiden vom Nachschub an Kämpfern und Material, der über die poröse Grenze kommt. Um sie zu hindern, ihren Feldzug in die Türkei auszuweiten. Und sie kann einen Rückzugsraum für Flüchtlinge ebenso wie für jene syrischen Rebellen schaffen, die der Westen als moderat versteht und auf seiner Seite sieht. So weit, wie gesagt, ist man sich einig. Und das alles wären positive Entwicklungen, die dem IS zusetzen könnten. Doch es ist ein Experiment, das an vielen Punkte scheitern kann – nicht zuletzt an den völlig unterschiedlichen Interessen der vermeintlichen Partner.

Die USA fliegen Angriffe gegen den IS, die neben der irakischen Armee vor allem den kurdischen Kämpfern helfen sollen: Denn sie tragen im Irak wie in Syrien noch am meisten dazu bei, die Ausbreitung der Terrormilizen einzudämmen. Washington betrachtet sie deshalb als Verbündete. Gleichzeitig versuchen die Amerikaner, den "Islamischen Staat" losgelöst vom syrischen Bürgerkrieg zu sehen. Sie wollen mit ihren Luftangriffen nicht den Sturz des Assad-Regimes forcieren und vermeiden es deshalb so weit wie möglich, dessen Truppen zu beschießen: Angesichts der Bedrohung durch den IS scheint der Diktator in diesen Tagen das kleinere Übel zu sein, mit dem man sich vorläufig arrangieren kann. Solange der Kampf gegen die Gotteskrieger nicht entschieden ist, muss der Regimewechsel warten, und am besten soll ihn die syrische Opposition selbst besorgen.

Video: Nordirak - Dorfbewohner fürchten türkische Luftschläge
Die Türkei fliegt auch im Nordirak Luftangriffe gegen Stellungen der PKK. Bewohner des Gebietes fürchten deshalb um ihr Leben. Video kommentieren
Die Türkei hingegen scheint sich derweil aus ganz anderen Gründen dazu durchgerungen zu haben, in die Koalition gegen die Dschihadisten einzusteigen. Zumindest drängt sich der Verdacht auf, dass es ihr nicht primär um die Bekämpfung des IS geht: Die türkischen Angriffe treffen nicht nur Stellungen der Extremisten in Syrien, sondern auch der kurdischen PKK im Nordirak, inzwischen auch im Südosten der Türkei.

Ebenso geht die Türkei im Innern hart gegen deren Anhänger vor. Auslöser der antikurdischen Offensive sind vordergründig die jüngsten Anschläge der PKK auf türkische Soldaten und Polizisten, nachdem mutmaßlich der IS im kurdischen Suruç in der vergangenen Woche seinen ersten Selbstmordanschlag auf türkischem Boden verübt hatte: Die PKK sieht sie als Rache, weil sie dem türkischen Staat vorwirft, mit dem IS zu kollaborieren.

Die Türkei will in erster Linie Assad loswerden

Der Türkei war es in der Tat lange Zeit nur recht, wenn über die Grenze IS-Kämpfer und Waffen für die Dschihadisten nach Syrien gelangen konnten. Denn nachdem alle Bemühungen gescheitert waren, Assad zu Reformen zu bewegen, war für die Regierung in Ankara klar: Die außenpolitische Maxime "Null Probleme mit den Nachbarn", deren Kernstück die betont guten Beziehungen zum syrischen Herrscher waren, ist gescheitert – er muss weg.

Der Sturz des Diktators bleibt für die türkische Regierung das Ziel. Und auch wenn sie nicht mehr zuallererst auf den IS setzt, um dies zu erreichen, unterstützt sie doch weiterhin alle Kräfte, die gegen sein Regime kämpfen. Auch solche, die den USA nicht als Verbündete gelten, weil sie zu islamistisch sind. Die Türkei mag inzwischen erkannt haben, dass die Terrormiliz im Grenzgebiet und in die Türkei hinein eine Gefahr auch für sie darstellt. Doch ihre erste Priorität ist die Zerstörung des IS gewiss nicht.

Viel akuter sieht sich die Türkei offenbar von den Kurden bedroht. Nicht nur durch die PKK-Terroristen, die nun das Ziel der neuen militärischen Offensive sind. Der Kampf gegen sie dürfte ohnehin innenpolitischen Zielen dienen: Vieles deutet darauf hin, dass es der türkischen Regierung vor allem darum geht, vor den zu erwartenden Neuwahlen die prokurdische Partei HDP zu diskreditieren. Damit die es nicht mehr ins Parlament schafft und die konservative AKP doch wieder allein an die Macht kommt. Das eigentliche kurdische Problem für die Türkei aber stellt derzeit nicht die PKK dar, selbst wenn der Friedensprozess mehr tot als lebendig erscheint, womöglich sogar im Sterben liegt.

Den größeren Schrecken rufen in Ankara wohl die im Norden Syriens entstehenden autonomen kurdischen Gebiete hervor. Durch die Luftangriffe der amerikanischen Koalition sind die Kurden in der jetzigen Situation durchaus in der Lage, am Ende einen durchgehenden Streifen vom Irak bis nach Syrien zu kontrollieren. Dass so quasi ein kurdischer Staat, wie er im Norden des zerfallenden Iraks bereits gelebte Realität ist, nicht nur die Türkei vollends von der arabischen Welt abtrennt, sondern auch den separatistischen Zielen der Kurden innerhalb der Türkei enormen Auftrieb verleiht, will man unbedingt verhindern.

Die IS-freie Zone des geplanten Sicherheitskorridors in Syrien birgt genau deshalb so viel Konfliktpotenzial zwischen Ankara und Washington. Die Türkei will die syrisch-kurdische PYD und ihre YPG-Milizen, die mit der PKK verbunden sind, davon abhalten, dort eine territoriale Einheit zu schaffen. Die USA haben Schwierigkeiten genug, von ihnen als moderat empfundene Rebellen zu finden, setzen deshalb auch auf die kurdischen Kräfte und wollen sie stärken, nicht schwächen. Eine Intervention am Boden kommt für beide nicht infrage. Die Luftangriffe sollen lediglich die Voraussetzung dafür schaffen, dass Rebellengruppen, die man als Partner betrachtet, die Kontrolle gewinnen und behalten.

Wie das gehen kann, wenn der Korridor ausdrücklich keine Flugverbotszone werden soll, die auch die syrische Luftwaffe in Schach hielte, ist bislang ein Rätsel. Entscheidend aber wird die Frage sein, wen Ankara und Washington am Boden unterstützen. Es gibt bereits Befürchtungen, die USA hätten sich die Hilfe der Türkei gegen den IS mit der Zusage erkauft, dass im Norden Syriens kein Kurdenstaat entsteht. So weit muss man gar nicht gehen. Dass sich die Amerikaner aber für die nationalistischen Ziele der Türkei instrumentalisieren lassen und die Kurden am Ende die Verlierer sind – diese Gefahr besteht.