Neue Zürcher Zeitung , 30.07.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/wir-standen-kurz-vor-einer-loesung-1.18588301

Kurdenführer Demirtas im Gespräch
«Wir standen kurz vor einer Lösung»

Selahattin Demirtas fordert die türkische Regierung und die PKK auf, die Waffen niederzulegen. Die Angriffe auf den IS dienten bloss als Deckmantel; das eigentliche Ziel seien die Kurden.
Interviewvon Marco Kauffmann Bossart, Inga Rogg, Ankara31.7.2015, 11:00 Uhr

Mehr als zwei Jahre lang verhandelten die türkische Regierung und die Kurden über Frieden. In bloss einer Woche ist dieser Prozess beendet worden. Wer trägt die Verantwortung dafür?

Wir erleben eine komplette Kehrtwende, die inakzeptabel ist. Dafür verantwortlich ist eine Regierung, die bei den Wahlen vom Juni ihre absolute Mehrheit verlor und ihre Machtposition zurückgewinnen will. Die Regierung hat es darauf angelegt, von den gegenwärtigen Wirren zu profitieren. Natürlich legitimieren diese Umstände nicht die Anschläge der PKK. Auch sie trägt Verantwortung – doch die politische liegt bei der Regierung.

Aber ohne die Anschlagsserie von letzter Woche hätte die türkische Armee doch nicht mit den Luftangriffen auf PKK-Stellungen begonnen.

Technisch gesehen trifft das zu. Nur: Diesen Anschlägen gingen andere gravierende Ereignisse voraus wie das Attentat von Suruç (ein Selbstmordanschlag mit 32 Toten, Anm. d. Red.).

Was tun Sie als kurdischer Spitzenpolitiker, um die Lage in den kurdischen Gebieten zu beruhigen?

Beide Seiten müssen ihre Waffen niederlegen und an den Verhandlungstisch zurückkehren, um diese traurige Entwicklung zu beenden. Damit wir unser Ziel erreichen, gehen wir auch auf Nichtregierungsorganisationen und Medien zu. Wir wollen alle relevanten Parteien überzeugen, dass dieser Krieg aufhört.

Aber müssten Sie die PKK nicht auffordern, der Gewalt abzuschwören?

Ich habe solche Erklärungen abgegeben. Damit können wir auf der politischen Ebene etwas erreichen, aber nicht auf der Strasse. Deshalb versuche ich, die massgebenden Personen direkt zu erreichen.

Haben Sie kürzlich mit der PKK-Führung im Nordirak gesprochen?

Wegen der militärischen Lage ist es im Moment unmöglich, ins PKK-Hauptquartier in den Kandil-Bergen zu reisen. Ohnehin reicht es nicht, wenn bloss wir aktiv werden, auch die Regierung und die anderen politischen Parteien sind gefordert.

Wie stehen die PKK und Ihre Partei, die Demokratische Partei der Völker (HDP), zueinander?

Die Frage wird uns unentwegt gestellt. Ich beantworte sie stets offen und ehrlich: Wir sind nicht der politische Flügel der PKK. Die HDP besteht aus über 20 politischen Bewegungen. Aber es gibt eine gemeinsame Basis. Ein Teil unserer Wähler hat Kinder, die sich der PKK anschlossen oder im Gefängnis sind.

Schwächt die PKK nicht die HDP?

Die Regierung stellt uns als zwei Seiten derselben Medaille dar. Das schadet uns. Die HDP ist eine legale Partei, die sich für den Frieden einsetzt; die PKK hingegen führt einen bewaffneten Kampf. Die Regierung wiederum ist sich dieser Zusammenhänge bewusst und spielt sie gegen uns aus.

Sie haben die PKK schon vor der jüngsten Eskalation aufgefordert, die Waffen niederzulegen. Warum finden Sie kein Gehör?

Erstens muss die Regierung anerkennen, dass wir – dank unseren Verbindungen zum inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan und zum PKK-Hauptquartier im Irak – eine wichtige Vermittlerrolle wahrnehmen. Ferner ist es wichtig, dass wir den Rückhalt der Bevölkerung haben. Um das zu erreichen, organisieren wir Friedensmärsche und andere Aktivitäten.

Erdogan möchte die HDP-Führung wegen ihrer engen Beziehungen mit der PKK unter Anklage stellen. Was bedeutet das für Ihre Partei?

Das ist vor allem ein Angriff auf das Ansehen der HDP. Die Regierung greift die PKK an, aber sie trifft uns. Das eigentliche Ziel ist nicht die PKK, wir sind es. Denn die HDP nimmt an Wahlen teil und gewinnt. Wir sollen geschwächt werden. Dazu wird die PKK instrumentalisiert.

Die HDP wird als Partei dargestellt, die mit Terroristen unter einer Decke steckt. Sorgen Sie sich um Ihre Sicherheit?

Von Tag zu Tag nehmen die Drohungen zu und werden heftiger. Wir verbessern die Sicherheitsvorkehrungen. Aber egal, wie sehr uns die Regierung zum Angriffsziel macht, wir lassen uns nicht von unserem legitimen und aufrichtigen Anliegen abbringen.

Ist es nicht eine Verschwörungstheorie, dass jemand wie Erdogan, der den Friedensprozess angestossen hat, einen Krieg beginnt, nur weil seine Partei bei den Wahlen ein paar Sitze verloren hat?

Wenn man es sich genau ansieht, stellt man fest, dass dies keine Verschwörungstheorie ist. Er hat den Lösungsprozess initiiert. Er ist so weit gegangen. Warum hat er eine Kehrtwende gemacht, als der Durchbruch bevorstand? Für ein paar Sitze mehr hat er alles in den Müll geworfen.

Wäre es für das Land und für den Friedensprozess nicht das Beste, wenn die HDP mit der AKP koalieren würde?

Warum nicht? Wenn die Voraussetzungen stimmen, könnten wir selbstverständlich eine Koalitionsregierung bilden. Wir haben nach den Parlamentswahlen drei Bedingungen genannt: erstens Demokratie, zweitens Gerechtigkeit und drittens Frieden. Wir haben gesagt, wenn diese drei Bedingungen erfüllt werden, sind wir zu einer Koalition bereit. Wenn die AKP daran interessiert wäre, hätten wir diskutieren können. Aber die AKP verfolgt leider genau die entgegengesetzte Politik. Die AKP betreibt eine Kriegspolitik. Unter dieser Voraussetzung können wir mit ihr schlicht keine Koalition eingehen.

Wenn der Ministerpräsident Sie jetzt zu Gesprächen einladen würde, wären Sie bereit dazu?

Selbstverständlich, ja. Politik bedeutet, Lösungen zu finden, nicht, Krisen zu schaffen. Selbstverständlich würde ich Gespräche führen.

Wann haben Sie zuletzt mit Präsident Erdogan gesprochen?

Ich bin seit neun Jahren Abgeordneter, und seit sechs Jahren bin ich Co-Vorsitzender einer Partei. In dieser Zeit habe ich drei Mal mit dem Präsidenten gesprochen. Das letzte Mal war vor etwa drei Jahren, als Syrien einen türkischen Kampfjet abschoss. Er ist ein Mensch, der sich abschottet. Ein Mensch, der nicht zum Dialog bereit ist.

Was würden Sie ihm sagen, wenn er Sie jetzt anrufen würde?

Ich würde ihm erklären, wie schlimm die Lage im Land ist, und ihm sagen: Wir müssen eine Lösung finden. Wir sind zu Gesprächen und der Suche nach Auswegen bereit. Es steckt nichts Persönliches dahinter.

Sie erwähnten Syrien. Erdogan hat gegenüber dem Islamischen Staat (IS) in Syrien einen Kurswechsel vollzogen. Bringt dies die Regierung und die Kurden einander nicht näher?

Das könnte die Regierung und die Kurden in Syrien tatsächlich näherbringen. Aber die Türkei verfolgt keinen wirklichen Anti-IS-Kurs. Sie verfolgt einen antikurdischen Kurs. Der Anti-IS-Kurs dient nur als Deckmantel, um gegen die Kurden vorzugehen.

Wohin steuert die Türkei?

Die Türkei bewegt sich in gefährlichem Fahrwasser. Sie nutzt ihr Potenzial nicht. Sie könnte ein Vorbild für Demokratie und Frieden sein, das über die Landesgrenzen hinausstrahlt. Aber dem stehen die persönlichen Ambitionen eines einzelnen Mannes entgegen. Deswegen durchlebt das Land extrem schwere Zeiten. Die HDP ist die einzige Kraft, die in der Türkei noch Anlass zu Hoffnung bietet.

Sie sagten erst kürzlich, das Land sei nur noch einen Schritt vom Frieden entfernt. War dies nicht zu optimistisch?

Nein, keineswegs. Anfang Jahr wurde ein grosses Treffen auf Imrali vereinbart (Anm. d. Red.: Insel im Marmarameer, auf der PKK-Chef Abdullah Öcalan seit 1999 inhaftiert ist). Schreiner bauten sogar eigens einen Tisch für 30 Personen. Unabhängige Beobachter, Vertreter der HDP, der Regierung und Öcalan sollten sich an diesem Tisch versammeln. Am selben Tag hätte Öcalan einen PKK-Kongress angeordnet, der die Entwaffnung beschlossen hätte. Das war die Vereinbarung. Stattdessen erlaubte uns die Regierung eine Woche später nicht mehr, nach Imrali zu fahren. Seit diesem Tag waren wir nicht mehr dort. Hätte diese Versammlung stattgefunden, hätte Öcalan den Aufruf gemacht. Wir standen wirklich kurz vor einer Lösung.

Kurdenführer und Gegenspieler Erdogans
Selahattin Demirtas war der eigentliche Sieger der türkischen Wahlen vom 7. Juni. Mit 13 Prozent der Stimmen nahm seine Demokratische Partei der Völker (HDP) die 10-Prozent-Hürde überraschend deutlich. Der Erfolg der HDP ging auf Kosten der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Nach 12 Jahren büsste die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mitbegründete AKP ihre absolute Mehrheit ein. Erdogans Plan, aus der Türkei eine von ihm geführte Präsidialrepublik zu machen, war damit fürs Erste ausgeträumt.

Der charismatische Menschenrechtsanwalt aus der ostanatolischen Provinz Elazig hat es verstanden, die HDP als Vorkämpferin für eine pluralistische Türkei zu positionieren. Von der Linkspartei sollen sich nicht bloss Kurden, sondern auch Türken, die Erdogans autokratisches Gebaren ablehnen, vertreten fühlen. Demirtas begeistert gläubige Muslime ebenso wie Kapitalismuskritiker und Exponenten der Gezi-Bewegung, die 2013 in Istanbul während Wochen gegen Erdogan demonstrierten. Zudem positioniert sich die HDP als Fürsprecherin aller Minderheiten. In der Parlamentsfraktion sitzen Aleviten, Armenier, Roma und mehr Frauen als in jeder anderen türkischen Partei. Den Vorsitz bei der HDP teilt sich Demirtas mit der Politikerin Figen Yüksekdag.

Trotz der demonstrativen Gleichstellung ist der männliche Co-Vorsitzende das Zugpferd der HDP. Bei den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr trat der 42-jährige Vater zweier Töchter gegen Erdogan an und rang dem starken Mann der Türkei einen Achtungserfolg ab. Seine politische Laufbahn startete Demirtas nach einer traumatischen Trauerfeier für einen von Sicherheitskräften ermordeten Kurdenpolitiker, bei der die Polizei in die Menge schoss und mehrere Trauergäste tötete. Demirtas war damals 18 Jahre alt. 2009 verurteilte ein Gericht in Diyarbakir seinen Bruder Nurettin wegen angeblicher Verbindungen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu einer Gefängnisstrafe. Als Jugendlicher liebäugelte Demirtas selber damit, sich dem bewaffneten Kampf der militanten Kurdenorganisation anzuschliessen.

Der neben dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan bedeutendste Kurdenführer hält die HDP für prädestiniert, im Kurdenkonflikt eine Vermittlerrolle zu spielen. Wie keine andere politische Kraft verfüge die HDP über einen direkten Draht zu Öcalan, zur Regierung in Ankara sowie zum PKK-Hauptquartier im Nordirak. Demirtas hat den gealterten Revolutionär auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali acht Mal besucht. Nach der jüngsten Eskalation will Ministerpräsident Ahmet Davutoglu keine weiteren Missionen nach Imrali erlauben.