welt.de, 02.08.2015

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article144746825/Es-geht-nicht-um-Kurden-sondern-um-den-Islam.html

Türkischer Präsident

Es geht nicht um Kurden, sondern um den Islam

Der türkische Präsident ist kein Kurdenfresser. Er hat ein Problem mit säkularen Lebensentwürfen. Ihm geht es vor allem um seine Macht und um drei Dinge: "den Islam, den Islam, den Islam". Von Deniz Yücel

Der türkisch-irakische Grenzübergang Habur ist ein staubiger Fleck am Rand der mesopotamischen Tiefebene. 44,8 Grad Celsius wurden am Wochenende dort gemessen. Seit acht Tagen liegen dort in einem Kühlwagen die Leichname von 13 Kämpfern der syrisch-kurdischen YPG, zwölf türkische Staatsangehörige und der 21-jährige Kevin Jochim (Link: http://www.welt.de/143941325) aus Karlsruhe. Die türkischen Behörden verweigern die Überführung.

Nicht allein, dass die Luftwaffe in den vergangenen Tagen weit mehr Angriffe auf Stellungen der PKK geflogen hat als auf Stellungen des IS oder nur ein Bruchteil der rund 1500 bei Razzien festgenommenen Personen unter dem Verdacht steht, dem IS anzugehören. Auch in solchen Gesten zeigt sich, wie ernst es der türkische Staat mit der Bekämpfung des IS meint und was er von jenen hält, die der Terrormiliz die Stirn bieten.

Kein Zweifel: Der Hauptgegner ist die PKK. Die aber ist eng mit den syrischen PYD und deren Milizen verbunden; türkischen Angaben zufolge kämpfen knapp 4000 erfahrene PKK-Leute und 4500 junge Freiwillige in ihren Reihen gegen den IS. Jeder Schlag gegen die PKK nutzt dem Islamischen Staat.

Aber glaubt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wirklich, dass er die PKK auf diese Weise erledigen kann? Wohl kaum. Er mag, vorsichtig formuliert, Anzeichen von Cäsarenwahn zeigen, blöd ist er nicht. In den Neunzigerjahren ging die Armee mehrfach auch mit Bodentruppen gegen die PKK im Nordirak vor, mitunter unterstützt von den irakisch-kurdischen Kämpfern von Massud Barsani. Von diesen Schlägen konnte sich die PKK stets schnell erholen.

Konzessionen in der Kurdenfrage

Es war nicht zuletzt die Erfahrung eines auf beiden Seiten rücksichtslos geführten Krieges mit über 40.000 Todesopfern, aber ohne Siegern, die Erdogan dazu bewog, Verhandlungen aufzunehmen. Womöglich spekuliert Erdogan darauf, nach dem Schlagabtausch und einer Karenzzeit den Dialog wieder aufnehmen zu können – direkt mit der PKK oder mit dem Umweg über den derzeit von der Außenwelt isolierten Abdullah Öcalan.

Sicher ist das nicht. Gewiss ist nur, dass er zuvor seinen eigentlichen Gegner loswerden will. Der heißt weder IS noch PKK. Erdogans Hauptgegner ist die prokurdisch-linke Demokratiepartei der Völker (HDP), die bei der Parlamentswahl Anfang Juni 13 Prozent der Stimmen holte und dafür sorgte, dass Erdogans AKP die absolute Mehrheit im Parlament verlor.

Nicht die Regierung, sondern die HDP habe den Friedensprozess beendet, sagte am Wochenende der stellvertretende Ministerpräsident Yalcin Akdogan. Tatsächlich hatte es vor der Parlamentswahl in linken und liberalen Milieus die Befürchtung gegeben, die HDP könne im Gegenzug für Konzessionen in der Kurdenfrage einer Verfassungsänderung zustimmen, mit der Erdogan seinen Traum von der Präsidialrepublik erfüllt hätte.

Demirtas zerschlug diese Bedenken mit einem einzigen Satz: "Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen!" Der Satz wurde zur Parole, zum Hashtag, zum geflügelten Wort. Mit diesem Satz, so meint der AKP-Mann nun, habe Demirtas den Friedensprozess beendet.

Der Anschlag von Suruc

Ein absurder Vorwurf. Aber in Erdogans Gedankenwelt entbehrt er nicht einer gewissen Logik. In dieser Welt sind demokratische Wahlen nur dazu da, Erdogans Macht zu bestätigen, während Versuche der Opposition, diese Macht einzudämmen oder zu beenden, Putschgelüste sind. Nach der Wahlniederlage brauchte er drei Tage, um das Ergebnis zu verdauen, dann forderte er das, was die ihm hörigen Medien gleich verlangt hatten: Neuwahlen (Link: http://www.welt.de/143753507) . Demokratie ist, wenn das Ergebnis passt.

Zwischendurch geht es auch ohne. Mit allerlei Verfahrenstricks hat er den Auftrag zur Regierungsbildung hinausgezögert und dabei den Druck auf den Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu erhöht, sich auf keine Koalitionsregierung einzulassen. Zugleich regiert Erdogan unter der Beihilfe einer nicht mehr demokratisch legitimierten Regierung einfach weiter. Es ist nicht weniger als ein kleiner Putsch, der gerade in der Türkei stattfindet.

Erdogans Kalkül: mit einer nationalistischen Rhetorik Stimmen der MHP zurückzugewinnen und zugleich die HDP in die Nähe der PKK zu rücken und zu kriminalisieren, um sie unter die Zehnprozenthürde zu drücken. Eine Stimmung von Chaos, Terror und Krieg kann da nur nützlich sein. Deshalb ist auch der monströse Verdacht nicht völlig abwegig, dass der türkische Geheimdienst über den Anschlag von Suruc mindestens informiert gewesen sein könnte.

Doch selbst wenn Erdogan derzeit nationalistische Töne anschlägt und HDP-Politikern mit der Aufhebung der Immunität (Link: http://www.welt.de/144558751) droht – ein Nationalist ist er nicht. Unter seiner Herrschaft wurde die Leugnung der kurdischen Identität gelockert und zugleich die Infrastruktur in Südostanatolien verbessert. Im Wahlkampf wedelte er mit einer kurdischsprachigen Koranübersetzung (Link: http://www.welt.de/140746001) herum, und erst am Wochenende wiederholte er bei einem Besuch in Indonesien, was seine ideologischen Referenzen sind: "Unsere einzige Sorge heißt Islam, Islam, Islam."

Die Stimmen aus den Armenvierteln

Wenn seine Ideologie eine nationalistische Note hat, dann die, dass er sich als Erbfolger der osmanischen Herrscher wähnt und einen Führungsanspruch für die gesamte islamische Welt formuliert. Erdogan hat kein Problem mit den Kurden, zumindest nicht mit den Sunniten. Er hat ein Problem mit säkularen Lebensentwürfen. Und mit politischer Opposition. Und weil die Kurden mit großer Mehrheit für die HDP gestimmt haben, hat er ein Problem mit ihr.

Doch die HDP ist keineswegs allein eine "Kurdenpartei". Bei der Parlamentswahl holte sie die meisten ihrer Stimmen in Istanbul – an erster Stelle in Armenvierteln mit einer großen kurdischen Bevölkerung, an zweiter in den Vierteln des säkularen Bürgertums. Auch dort konnte sie mit ihrem Anspruch überzeugen, das Kurdenproblem als Teil eines Demokratiedefizits zu lösen.

Um diesem geradezu historischen Anspruch gerecht zu werden, muss sich die Partei allerdings aus dem Schatten der PKK befreien. Es geht nicht um Distanzierungsgesten und schon gar nicht darum, alle Kontakte zur PKK abzubrechen – wer, wenn nicht die HDP wäre dazu berufen, bei einer friedlichen Lösung zu vermitteln?

Es geht darum, dass sie eine Politik entwickelt, die sich vom bewaffneten Kampf der PKK glaubwürdig unterscheidet. "Wir werden dich keinen Krieg führen lassen", sagte Demirtas in der vergangenen Woche. Wenn er es schafft, diesen Satz auch an die PKK zu richten, gibt es in der Türkei Anlass zur Hoffnung – allen traurigen Nachrichten zum Trotz.