welt.de, 02.08.2015

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article144746825/Es-geht-nicht-um-Kurden-sondern-um-den-Islam.html

Abdullah Öcalan

Die Macht des kurdischen Miraculix

Seit Jahren sitzt Abdullah Öcalan in Haft, seit Monaten wird er streng isoliert. Der PKK-Gründer ist trotzdem immer präsent. Er könnte im Konflikt mit der Türkei das Blatt wenden – wenn man ihn ließe. Von Deniz Yücel

Mitte Mai am türkisch-syrischen Grenzübergang Senyurt. Einige Hundert Menschen sind gekommen, um die Leichname von sechs jungen Leuten abzuholen, die im Krieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien ums Leben gekommen sind. Die Fahrt führt durch Dörfer, in denen Tausende den Konvoi säumen. Sie zeigen das Victory-Zeichen, schwenken Fahnen, rufen: "Die Märtyrer sind unsterblich!"

Dann drängelt sich ein Bus mit jungen Leuten am Konvoi vorbei, die wütender wirken als alle anderen. "Das sind die Freunde von einem der Toten", erzählt ein Anhänger der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP). "Die haben um Erlaubnis gefragt, sich an den Polizeiposten auszutoben. Aber eigentlich gibt es nur einen, der diese Jungs aufhält: die Führung."

Die "Führung" ist kein Gremium der illegalen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) oder der HDP. Die "Führung" ist Abdullah Öcalan. Nur Öcalan. Und dessen Devise lautet in jenen Tagen: Waffenstillstand,

Friedensprozess, Wahlen.

Gut eine Woche nach dem Wiederaufflammen des Krieges zwischen der Türkei und den Kurden wüssten viele gern, was der Gründer der PKK zur aktuellen Situation sagen würde. Egal, ob man in Öcalan den blutrünstigen Terroristenchef sieht, den Freiheitskämpfer oder von beidem etwas: In den 16 Jahren seiner Haft ist er zu einer zentralen Figur der türkischen Politik geworden. Für seine Anhänger ist sein Wort Befehl, für alle anderen hat es Gewicht. "Wenn Öcalan die sähe, würde er ihnen den Hintern versohlen", sagte der türkische Vizepremier Yalçin Akdogan über die HDP. Deren Co-Vorsitzende Figen Yüksekdag konterte: "Hebt seine Isolation auf, dann werden wir sehen, wem er den Hintern versohlt."

Öcalan als "Ideengeber" und "Volksführer"

Seit April durfte niemand mehr Öcalan besuchen. Er ist abgeschottet auf der Marmarainsel Imrali, 60 Seemeilen südöstlich von Istanbul, wo er eine lebenslange Haftstrafe absitzt. Eine Gefängnisinsel wie Robben Island, wo Nelson Mandela den größten Teil seiner Haftzeit verbracht hat, mit dem Öcalan von seinen Anhängern verglichen wird.

Anfangs durften ihn nur seine Anwälte besuchen, später auch Angehörige. Im Jahr 2009, als der türkische Geheimdienst in Oslo Gespräche mit der PKK aufnahm, wurden fünf Häftlinge nach Imrali verlegt. Und ab 2013 kamen prokurdische Abgeordnete. Der damalige Ministerpräsident Erdogan hatte sie beauftragt, bei einer friedlichen Lösung (Link: http://www.welt.de/113988361) des Konflikts zwischen der Türkei und den Kurden zu vermitteln. Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der HDP, hat ihn mehrmals besucht. Öcalan sei der PKK entwachsen und zum "Ideengeber" und "Volksführer" geworden, sagt er jüngst im Gespräch mit der "Welt" (Link: http://www.welt.de/143993396) .

Auf der Insel schrieb Öcalan Bücher und übermittelte über die Besucher seine Botschaften. Die beiden wichtigsten kamen jeweils zum Neujahrsfest Newroz: Im Jahr 2005, als er die neue, vom amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin beeinflusste Doktrin verkünden ließ – kommunale Selbstverwaltung statt Staatsgründung, demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft und Gleichberechtigung der Geschlechter. Und im Jahr 2013, als er einen Waffenstillstand bekannt gab und ein Ende des bewaffneten Kampfes in Aussicht stellte.

Öcalan war es auch, der die HDP dazu drängte, bei der Parlamentswahl (Link: http://www.welt.de/142454286) nicht mit nominell unabhängigen Bewerbern anzutreten, was erst den Machtverlust für Erdogans AKP ermöglichte. Und auch die eigenen Leute verschont er nicht: Mal kritisierte er die PKK-Führung, sie würde "weder was vom Kriegführen noch was vom Friedenschließen verstehen", ein andermal hielt der HDP-Vorläufer vor, den Gezi-Aufstand nicht ausreichend unterstützt zu haben. Und über Mitglieder der militanten PKK-Jugendorganisation YDGH sagte er: "Was sind das für Kasper?" Bisweilen erweckt Öcalan den Eindruck, als komme er sich vor wie General Strategus, der in einem Asterix-Band schluchzt: "Sie sind alle so dumm, und ich bin ihr Chef!" Denn bei aller ideologischen Abkehr vom Stalinismus – der Chef ist immer noch Öcalan.

Mit seiner Autorität sorgte er dafür, dass der Friedensprozess bislang alle kritischen Momente überstanden hat. Vor allem im Herbst 2014, als es im Zuge der Belagerung von Kobani in der Türkei zu schweren Auseinandersetzungen zwischen PKK-Anhängern, Islamisten und Sicherheitskräften kam, bei denen insgesamt 50 Menschen starben. Am dritten Abend der Unruhen traf Öcalan eine Delegation, der er einen Brief mitgab. Der Inhalt: am Dialog festhalten. Über Nacht kehrte Ruhe ein.

Darum meint der türkische Journalist Rusen Çakir, dass der Staat Öcalan jetzt absichtlich abschotte, damit er nicht mäßigend auf die PKK einwirken könne. Die HDP kann das nicht, selbst wenn sie wollte. "Öcalan könnte wieder deeskalieren", glaubt auch Ziya Pir, ein 44-jähriger Unternehmer aus Duisburg und frischgebackener HDP-Abgeordneter. "Öcalan und Erdogan sind die Einzigen, die einen Bürgerkrieg verhindern können", sagt er. "Es gibt ja nicht nur die PKK und die HDP, es gibt auch eine kurdische Jugend, die sonst niemand kontrollieren kann."

Für die junge Generation ist Öcalan eine entrückte Gestalt

Diese Generation kennt Öcalan nicht mehr als Guerilla-Führer mittleren Alters. Der "Vorsitzende Apo" war eine reale Figur; die "Führung" ist etwas Entrücktes, das nicht identisch ist mit dem Alten von der Insel. Und diese Generation besteht nicht allein aus zornigen jungen Männern. Gerade in den Großstädten wie in der Diaspora trifft man weltoffene junge Menschen, die Verbundenheit zur Bewegung und eigenständiges Denken, ja sogar Humor zusammenbringen können. Die Deutschkurdin Beriwan zum Beispiel, die Öcalan "unseren Miraculix" nennt und die, wie auch die Nachfolgenden, in Wirklichkeit anders heißt.

Oder die 23-jährige Istanbuler Studentin Zilan, die sich über die "Engstirnigkeit" und den "Militarismus" vieler Kader in Rage reden kann, aber Öcalan ausnimmt. "Er hat in einer feudalen Gesellschaft die Emanzipation der Frauen vorangetrieben", sagt sie. "Darum hebt sich die kurdische Gesellschaft heute von allen anderen im Nahen Osten ab." Auch bei ihrem individuellen Freiheitskampf am Küchentisch sei Öcalan eine wertvolle Stütze gewesen.

Obwohl sexuelle Beziehungen in der Guerilla noch in den 90er-Jahren mitunter Grund für Todesurteile waren? "Das hatte weniger mit konservativen Moralvorstellungen als mit militärischer Disziplin zu tun", meint Zilan. "Aber das war furchtbar. Anderseits habe Öcalan vorgeschlagen, Wahrheitskommissionen wie in Südafrika einzurichten, um alle Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten, auch die der PKK.

Welcher Öcalan wird die Oberhand gewinnen?

"Er hat sich zu einem Philosophen entwickelt", meint die Deutschkurdin Canan, die sich im Nordirak dem politischen Flügel der PKK angeschlossen hat. "Er ist mein Nächster, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe." Sara, eine 25-jährige Kauffrau aus Diyarbakir, meint: "Natürlich klingt das nach Widerspruch, wenn wir Demokratie fordern und Öcalan unsere Führung nennen. Aber ganz ehrlich: Gut, dass wir ihn haben. Er hat uns durch den Krieg geführt und kann uns zum Frieden bringen."

Ähnlich war es bei der Newroz-Kundgebung 2014 in Istanbul auf einem riesigen Transparent zu lesen: "Entweder Verhandlungen oder Krieg". Neben dem Spruch zwei Fotos: ein grauhaariger, milde blickender Öcalan (Link: http://www.welt.de/themen/abdullah-oecalan/) von heute und ein junger Öcalan in Uniform, den Blick in die Ferne schweifend. Verhandlungen oder Krieg? Die folgenden Wochen und Monate werden eine Antwort auf die Frage geben. Und darauf, welcher Öcalan in die Geschichte eingehen wird.