welt.de, 01.08.2015

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Bei Hamburgs Kurden wächst die Wut

Die kurdische Abgeordnete der Linken, Cansu Özdemir, befürchtet angesichts des Türkei-Konflikts einen Bürgerkrieg in ihrer Heimat. Der Verfassungsschutz beobachtet Emotionalisierung unter Kurden. Von Jana Werner

Der von der türkischen Regierung für beendet erklärte Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sorgt auch unter Hamburgs Kurden für Unruhe. "Wir stellen insbesondere in den sozialen Netzwerken eine erhöhte Emotionalisierung fest", sagt der Sprecher des Landesverfassungsschutzes, Marco Haase, der "Welt". Ferner nimmt die Zahl der Versammlungen, an denen auch PKK-Anhänger teilnehmen, über Hamburg hinaus bundesweit zu. Unmittelbar nach dem Selbstmordanschlag im türkischen Suruc gab es zwei Demonstrationen in der Hansestadt – mit PKK-Anhängern. Bei einer Versammlung am morgigen Sonntag auf dem Hachmannplatz werden ebenfalls Sympathisanten der kurdischen Arbeiterpartei erwartet. Laut Verfassungsschutz ist zudem am 8. August eine PKK-Großveranstaltung in Köln geplant, für die "breit mobilisiert" wird. "Es werden zahlreiche PKK-Anhänger aus Hamburg mit nach Köln fahren", sagt Haase.

Für die kurdischstämmige Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir (Die Linke) ist die PKK "die einzige progressive Kraft im Mittleren Osten, die Frauenrechte respektiert und umsetzt". Regelmäßig reist die 26-Jährige zu ihrer Familie in die Türkei, wo der Widerstand gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan und "seinen Kriegskurs" (Link: http://www.welt.de/144558751) groß ist. "So wie Hamburg mein Zuhause ist, ist auch Kurdistan mein Zuhause", sagt Özdemir, die seit 2011 in der Bürgerschaft sitzt, der "Welt". Noch im Oktober 2014 war sie an der Grenze zu Kobane sowie in Suruc, im März erst in Batman, der Heimatstadt ihres Vaters. "In der Türkei und auch hier in Hamburg sind die Menschen wütend, sehr wütend auf Erdogan und seine Regierung", sagt Özdemir.

Westen lässt Kurden fallen

Die 1978 in der Türkei gegründete PKK wurde in Deutschland 1993 verboten. Seit 1999 sitzt PKK-Gründer Abdullah Öcalan in Haft. Seit 2002 wird die Partei von der EU als terroristische Organisation gelistet. Laut Verfassungsschutz gelten in Deutschland 14.000 ansässige Kurden als PKK-Anhänger. In Hamburg sind es 600, weitere 900 werden dem Umfeld zugerechnet. Wie viele Kurden insgesamt in Hamburg leben, ist unbekannt, da es keine kurdische Staatsangehörigkeit gibt. Geschätzt sollen es 50.000 sein, bundesweit 800.000.

Viele von ihnen sind einst aus politischen Gründen aus ihrer Heimat geflohen. Und so sind die Kurden laut Özdemir in großer Sorge, dass in der Türkei ein Bürgerkrieg wie in Syrien ausbricht. Özdemir: "Sie sind aber auch wütend auf den Westen, zum Beispiel auf die Bundesregierung, die die Türkei zwar mahnt, aber ihre Bündnistreue zur islamistischen AKP nicht aufkündigt." Die Wut richtet sich auch gegen die Nato, "die Erdogan vollste Unterstützung im sogenannten Kampf gegen den Terror zugesagt hat". Die Kurden hingegen lasse der Westen nun fallen. Allerdings müsse dem Westen bewusst sein, dass eine Schwächung der Kurden eine Stärkung des IS bedeute. "Einen Staat zu unterstützen, der eine Terrororganisation wie den IS finanziell, medizinisch und waffentechnisch unterstützt, ist unfassbar", erklärt Özdemir, die bei den Wahlen in der Türkei dank ihrer doppelten Staatsbürgerschaft die prokurdische Oppositionspartei HDP gewählt hat.

Laut Özdemir wird die HDP "mit allen Mitteln bekämpft". Deren Köpfe wie Selahattin Demirtas stünden für eine neue demokratische Form der Politik. "Diese neue Form hat in Erdogans islamistischem Unterdrückungsstaat keinen Platz. Erdogan setzt seinen Fokus nicht auf das Verbot der HDP, weil wieder eine neue Partei gegründet werden könnte, sondern auf die Funktionäre der Partei", sagt Özdemir. Sein Ziel ist klar: "Erdogan möchte mit keiner Partei eine Koalition eingehen, sondern strebt Neuwahlen an, bei denen er die absolute Mehrheit wieder gewinnen möchte. Er möchte sein angestrebtes Präsidialsystem durchsetzen." Weil Erdogan, aus Sicht von Özdemir, die PKK und andere progressive Kurdenkräfte vernichten möchte, solidarisiere sich derzeit nicht nur die Mehrheit der Kurden mit der PKK, sondern weitere Gruppen wie die Türken, Armenier, Aramäer, Jesiden, Aleviten und Sunniten.

Friedliche Linie aus taktischen Gründen

Nach Einschätzung des Verfassungsschutzes hat die PKK in Hamburg, dem Dreh- und Angelpunkt in Norddeutschland, ein unverändert hohes Mobilisierungspotenzial. Das hätten die Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Salafisten im Oktober (Link: http://www.welt.de/133055969) 2014 am Steindamm gezeigt. Die neue Emotionalisierung "beobachten wir mit größter Aufmerksamkeit, auch wenn es bisher noch zu keinen größeren Ereignissen wie Besetzungen gekommen ist", sagt Sprecher Haase. Es dürfe nicht vergessen werden, dass die PKK eine ausländische extremistische Organisation (Link: http://www.welt.de/144558751) sei. Haase: "Umso mehr ist darauf nach den jüngsten Anschlägen und Attentaten hinzuweisen."

Wie der Verfassungsschutz erklärt, fährt die PKK ihre friedliche Linie in Europa lediglich aus taktischen Gründen, auch, um von der EU-Terrorliste genommen zu werden. Zudem werde versucht, Einfluss auf westliche politische Kreise zu nehmen. So wehrten sich verschiedene kurdische Organisationen gegen den IS, wobei die Peschmerga nicht mit der PKK zu verwechseln seien. Die PKK indes kämpfe gegen den IS, um ihre eigenen Ziele vor Ort zu realisieren. Um eine Befreiung und Demokratisierung gehe es der PKK dabei weniger, wie es vom Verfassungsschutz heißt.

Özdemir wünscht sich eine Dezentralisierung des Staates Türkei – mit der Gleichberechtigung aller ethnischen und religiösen Gruppen, der Emanzipation von Frauen und einem ökologischen Ansatz. Momentan sei die Türkei ein antidemokratischer, sexistischer und islamistischer Unterdrückungsstaat. "Das Land treibt eher in Richtung eines Bürgerkriegs, weil der Islamische Staat mit Unterstützung Erdogans an Macht gewinnt", sagt Özdemir.