junge Welt, 03.08.2015

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Ankaras Massaker

Zivilisten bei türkischem Luftangriff auf Dorf im Nordirak getötet. Kurdischer Autonomiepräsident Barsani fordert PKK zum Abzug auf

Von Nick Brauns

Bei Angriffen der türkischen Luftwaffe auf ein kurdisches Dorf im Nordirak sind am Samstag neun Zivilisten – darunter eine Mutter mit ihren fünf Kindern – getötet worden. Weiter 15 Bewohner des Ortes Zergele in den Kandil-Bergen wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt, als F-16-Kampfflugzeuge in zwei Angriffswellen acht Bomben abwarfen. »Es gab hier sechs Häuser, die nun alle zerstört sind«, erklärte einer der Bewohner, Feqii Muhammed, gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur Firat News. »Die Menschen, die hier angegriffen wurden, sind unschuldige Zivilisten.«

Das türkische Außenministerium behauptete dagegen, die Attacke habe einem Camp der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegolten, in dem sich hochrangige PKK-Funktionäre aufgehalten hätten. Nach Geheimdienstinformationen sei der Ort »frei von Zivilisten« gewesen, doch die PKK habe »Zivilisten als menschliche Schutzschilde« missbraucht. Das Massaker weckt Erinnerungen an den Luftangriff auf das Dorf Roboski im türkisch-irakischen Grenzgebiet, im Dezember 2011, bei dem 34 vom Geheimdienst zu Guerillakämpfern deklarierte Schmuggler getötet worden waren.

Der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Masud Barsani, verurteilte zwar den Luftangriff auf Zergele. Gleichzeitig forderte er gegenüber seinem Haussender Rudaw jedoch die PKK, deren Guerilla derzeit an der Seite der Peschmerga gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) kämpft, zum Verlassen des Nordirak auf. »Die PKK muss das Schlachtfeld von der irakischen Region Kurdistan fernhalten, damit keine Zivilisten Opfer dieses Krieges werden«, erklärte Barsani.

Nach Angaben der amtlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu vom Wochenende wurden während der seit einer Woche andauernden Luftangriffe auf kurdische Stellungen im Nordirak bereits 260 PKK-Mitglieder getötet und 400 verletzt. Die PKK meldete dagegen nur wenige Opfer. Bei Vergeltungsaktionen der Guerilla starben am Wochenende in der Türkei nach PKK-Angaben 14 Soldaten und zwei Polizisten. Zwei ihrer Kämpfer seien ebenfalls umgekommen. Bei einer Razzia im osttürkischen Agri exekutierten Spezialeinheiten der Polizei nach Angaben von Firat in der Nacht zum Samstag drei Brüder.

Während täglich Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Irak und der Türkei geflogen werden, gab es seit Beginn des von der Regierung der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ausgerufenen »Krieges gegen den Terror« nach Medienberichten erst drei Angriffe auf den IS im Norden Syriens. Dagegen beklagt die Führung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) am Wochenende fortgesetzte türkische Militäraktivitäten gegen die dortige Selbstverwaltungsregion Rojava. So hätten Kampfflugzeuge zeitgleich mit einem erneuten IS-Angriff die syrischen Städte Sarrin und Kobani überflogen.

Unter den innerhalb einer Woche unter Terrorverdacht in der Türkei festgenommenen 1.200 Personen befinden sich nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD nur 140 mutmaßliche IS-Anhänger. Bei den übrigen handelt es sich um kurdische oder sozialistische Aktivisten. Die Regierung wende sich »mehr virtuell als real« gegen den IS, bemerkt daher der frühere türkische Botschafter in den USA und jetzige Politiker der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Faruk Logoglu, gegenüber der konservativen Tageszeitung Today’s Zaman vom Sonntag. »Das wirkliche Ziel der AKP-Regierung ist nicht der IS, sondern die PKK.«