freitag.de, 03.08.2015

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Lutz Herden

Verraten und verkauft

Kurden Jahrzehntelang verstanden sich die USA als Schutzmacht der Kurden im Nordirak. Nun wird diese Zweckallianz zugunsten der Türkei und ihrer Aggression geopfert

Im Nahen Osten gehört es zur Normalität, dass überraschende Allianzen entstehen, Bündnisse zerbrechen, Fronten sich auflösen, Politiker oder Militärs die Seiten wechseln, Protegés abstürzen, aus Partnern Gegner werden. Das war im Libanon-Krieg (1975 – 1990) nicht anders als im Verhältnis der USA zu Iraks Diktators Saddam Hussein, der einst als Feind des Iran hofiert wurde, bis es sich für einen Präsidenten wie George W. Bush anbot, ihn im Anti-Terror-Kampf aus dem Weg zu räumen.

Derzeit nun vollführt die US-Administration eine makabre Kehrtwende in ihrer Kurden-Politik. Was das heißt, lässt sich ermessen, werden die vergangenen beiden Jahrzehnte erinnert. Nach dem Golfkrieg Anfang 1991 („Operation Wüstensturm“) erklärte sich die Amerikaner zusammen mit den Briten zur Schutzmacht der irakischen Kurden.

Diese Selbstermächtigung war zwar nicht von den Vereinten Nationen autorisiert, doch konnten sich die Regierungen in Washington und London mit der über dem Nordirak errichteten Flugverbotszone auf UN-Resolution 688 vom April 1991 berufen, mit der „eine besonders in allerjüngster Zeit in den kurdischen Siedlungsgebieten stattfindende Unterdrückung der irakischen Zivilbevölkerung“ verurteilt wurde. Die neue Schutzmacht ließ die Despotie Saddam Husseins ebenso bröckeln wie der von den USA und deren Alliierten Anfang 1991 erzwungene Abzug der irakischen Armee aus Kuwait.

Darauf schien Verlass

Die Beschützer mussten wissen, und die Beschützten konnten davon ausgehen – eine Schutzzone Nordirak fördert kurdische Autonomie. Sie wird bei einer Erosion des irakischen Staates zum Vorläufer kurdischer Staatlichkeit. Was sonst, wenn ein als Nötigung empfundener staatlicher Rahmen entfällt?

So wurde eine Situation geschaffen, die über den Irak hinaus auch kurdische Siedlungsräume in Syrien, in der Türkei bis hin zum Iran beeinflussen musste. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass es Interferenzen nicht nur geben konnte, sondern musste, weil die USA eine Zweckallianz mit den Kurden im Irak eingingen, auf die Verlass sein konnte, weil sie amerikanischen Interessen diente. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Der Irak Saddam Husseins war durch Gebietsentzug geschwächt. Es ließ sich eine regionale Lufthoheit mit dem Existenzrecht der Kurden rechtfertigen. Man konnte sich außerdem moralisch feiern lassen: Die US-Armee schützte mit den Kurden zugleich das Recht auf politische und nationale Selbstbestimmung.

Daran sollte sich während der US-Besatzungszeit im Irak zwischen 2003 und 2011 nichts ändern. Dies galt erst recht, als vor einem Jahr der Islamische Staat (IS) das für seine Kalifats-Ideologie benötigte Territorium zu erobern begann. Bei einer sich wegduckenden irakischen Nationalarmee war die kurdische Militanz im Nordirak wie in Nordsyrien die einzig relevante Bastion, die den Dschihad des IS aufhalten konnte. Sie wurde von den USA zur Bodentruppe der Anti-IS-Front erkoren, aus der Luft unterstützt und als militärischer Player aufgerüstet. Woran im Übrigen auch Deutschland Anteil hatte, das sich dabei einer salbungsvollen Rhetorik bediente. Sie könnte jetzt in Empörung überführt werden, wenn die türkische Armee gegen dieses Potenzial einen Schlag nach dem anderen führt.

Man kann einwenden: Die Peschmerga-Kämpfer als Streitkraft der Autonomen Region Kurdistan im Irak sind nicht mit den PKK-Kombattanten zu vergleichen, doch sind sie ebenso wenig voneinander zu trennen.

Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen der PKK und der kurdisch-syrischen PYD (Partei der Demokratischen Union), deren Milizionäre in Nordsyrien der Assad-Armee abgerungene Gebiete gegen den IS verteidigen. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß, dass die PYD-Kämpfer im syrischen Kobane diese Stadt nicht zuletzt deshalb erfolgreich gegen den IS hielten, weil es mehr als nur logistischen Beistand von PKK-Einheiten gab.

Maßloses taktisches Kalkül

Die USA tauschen nun die jahrzehntelange Zweckallianz mit den Kurden gegen eine Zweckallianz mit der Türkei Tayyip Erdoğans aus. Der fühlt sich berufen, Zwingherr der Kurden in der Türkei, aber letzten Endes der gesamten kurdischen Diaspora im Nahen Osten zu sein.

Was die US-Regierung tut, grenzt nicht nur an Verrat gegenüber den Kurden – es ist genau das. Auch die NATO ist daran beteiligt. Sie solidarisiert sich mit Ankara, wie die Sitzung des NATO-Rates vor einer Woche gezeigt hat. Die 27 Mitgliedsstaaten haben Tayyip Erdogan quasi Absolution erteilt. Er darf gegen die PKK und die Kurden tun, was er für geboten hält.

Das ist angesichts des Anti-IS- bzw. Anti-Terror-Feldzuges der USA eine so groteske wie nachvollziehbare Wendung. Dazu haben sich Opportunisten bereit gefunden, denen es egal ist, dass Menschenleben der Preis für ihre Wendigkeit sind, die sich aber empören, wenn die Maßlosigkeit ihres taktischen Kalküls eine ebenso maßlose – weil terroristische – Antwort provoziert.

Ganz nebenbei stützen die USA und das westliche Bündnis die Mutation eines Partnerstaates von der AKP-Autokratie zur Erdogan-Diktatur. Nur, wer bei der Solidarität mit den Kurden keine Prinzipien hat, dem fehlen sie natürlich auch dann, wenn es gilt, solchen Metamorphosen gewachsen zu sein.