Neue Zürcher Zeitung, 04.08.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/kriegerischer-poker-um-den-norden-syriens-1.18589854

Kampf gegen den Islamischen Staat

Kriegerischer Poker um den Norden Syriens

Um seinen Einfluss in Syrien zu wahren, musste Ankara in den Krieg gegen den IS einsteigen. Aber werden seine syrischen Verbündeten dabei mitmachen?

von Jürg Bischoff, Beirut

Falls Verbündete in Syrien angegriffen würden, werden ihnen die USA mit der Luftwaffe beistehen, berichteten amerikanische Medien am Montag. Sie beriefen sich dabei auf Regierungsquellen, wonach Attacken auf von den USA ausgebildete Rebellen – auch vonseiten syrischer Regierungstruppen – mit Luftangriffen beantwortet würden. Die Warnung richtet sich allerdings weniger an Asad als an die islamistischen Konkurrenten der amerikanischen Verbündeten unter den Rebellen, wie sich letzte Woche im Norden Syriens gezeigt hat.

Amerikanische Bomber

Bei Azaz nordwestlich von Aleppo wurden am Mittwoch mehrere Kämpfer einer Rebelleneinheit namens «Division 30» von der Nusra-Front gefangen genommen. Der Kaida-Ableger veröffentlichte danach ein Video, in dem einer der Entführten sagte, er sei nach Syrien zurückgekehrt, nachdem er in der Türkei von den Amerikanern ausgebildet worden sei. Washington hatte kurz zuvor eine Gruppe von rund 60 Kämpfern nach Syrien geschickt, die in einem Programm zur Bekämpfung des Islamischen Staats (IS) trainiert und ausgerüstet wurden.

Die Nusra-Front beschuldigte die «Division 30», mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, und griff am Freitag ihr Hauptquartier an. Trotz amerikanischer Luftunterstützung mussten die proamerikanischen Rebellen den Rückzug antreten und Zuflucht suchen in der Nachbarregion Afrin, die von den kurdischen Volksverteidigungskräften (YPG) und deren arabischen Verbündeten kontrolliert wird. Beim Versuch, in Nordsyrien eine Basis für ihren Kampf gegen den IS zu errichten, haben die Amerikaner damit einen weiteren Rückschlag erlitten.

Die Nusra-Front hatte die «Division 30» vergeblich aufgerufen, sich von den USA loszusagen und das Asad-Regime zu bekämpfen. Auf dem Kampf gegen Asad beruht das Bündnis der Kaida-Kämpfer mit ihren islamistischen Verbündeten in Nordsyrien. Die Amerikaner hingegen verpflichten die von ihnen unterstützten Gruppen darauf, ausschliesslich gegen den Islamischen Staat zu kämpfen. Doch viele Rebellen sehen im IS das kleinere Übel und ignorieren die amerikanische Anwerbung.

Ankara fürchtet die Kurden

Ähnlich ist die Haltung der Türkei, die die Rebellen in Nordsyrien unterstützt: Asads Sturz hat für Ankara erste Priorität. Dass sich Präsident Recep Tayyip Erdogan nun von den Vereinigten Staaten für den Kampf gegen den IS einspannen lässt, hat zwei Gründe: Mit der Öffnung seiner Luftbasis Incirlik für amerikanische Bomber hat sich Ankara die Einwilligung Washingtons eingehandelt, gegen die türkisch-kurdische PKK im Irak vorzugehen. Der türkische Präsident will zudem verhindern, dass den syrischen Kurden der vom IS beherrschte Grenzabschnitt westlich des Euphrats in die Hände fällt. Die mit der PKK alliierte YPG hat im Kampf gegen die Jihadisten in letzter Zeit einen breiten Gebietsstreifen im Norden Syriens erobert.

Neoosmanischer Traum

Nach der Vereinbarung mit den Amerikanern propagiert Ankara denn auch mit neuer Verve sein Projekt einer Sicherheitszone in der Provinz Aleppo, die weder vom IS noch vom Asad-Regime oder von den Kurden kontrolliert werden soll. Ankara möchte dort die mit ihm verbündete Rebellenallianz um Jabhat al-Nusra installieren. Erdogan scheint darauf zu spekulieren, aus dem zerfallenden Syrien eines der schönsten Stücke herauszuschneiden und unter seine Kontrolle zu nehmen: das reiche Aleppo und sein fruchtbares Umland.

Washington hat sich beeilt, den neoosmanischen Traum von der türkischen Rückkehr nach Aleppo zu desavouieren. Es gehe nicht darum, Sicherheits- oder Flugverbotszonen zu errichten, erklärten amerikanische Spitzenbeamte den Medien, sondern darum, den IS zu bekämpfen. Für Washington hat sich die YPG als effizienter Partner im Kampf gegen den IS erwiesen, umso mehr, als die Kurden auch Verbündete unter den arabischen Rebellengruppen gewonnen haben. Diese kurdisch-arabische Allianz bedroht heute den IS in Aleppo und sogar in Rakka und droht dem türkischen Einfluss in Nordsyrien endgültig ein Ende zu machen.

Um dies zu vermeiden, musste Ankara selber in den Anti-IS-Kampf einsteigen. Washington erwartet von den Türken aber vor allem, dass sie auch die islamistischen Rebellen in Nordsyrien dazu bringen, gegen den IS vorzugehen. Misslingt dies, wird Washington seine Feuerkraft wohl ganz den syrischen Kurden zur Verfügung stellen, und Ankaras Einfluss in Nordsyrien wird weiter schrumpfen.