zeit.de, 04.08.2015 http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/tuerkei-verhaeltnis-deutschland-europa-kommentar-muetzenich PKK-Konflikt Deutschland kann entschärfen helfen Die türkischen Angriffe auf PKK-Stellungen sind innenpolitisch motiviert. Deutschland hat starke Verbindungen zur Türkei und der PKK und muss diese nutzen. Ein Gastbeitrag von Rolf Mützenich Die Türkei ist ein faszinierendes und wichtiges Land, unabhängig davon, wer in Ankara regiert. Faszinierend auch, weil sich noch immer viele Menschen nicht über ihre Religion oder ihre Volkszugehörigkeit definieren, sie sind vielmehr Laizisten, im Vordergrund steht für sie ihre soziale Stellung und ihre politische Überzeugung. In den vergangenen Jahrzehnten sind zwischen der Türkei und Deutschland zahlreiche Verbindungen, Freundschaften und Familienbeziehungen entstanden. Heute leben in Deutschland fast drei Millionen Menschen türkischer Herkunft. Laut Statistischem Bundesamt gab es 2014 rund 191.000 deutsch-türkische Ehen. In der Türkei wiederum leben derzeit etwa 70.000 deutsche Staatsbürger. Jährlich strömen etwa fünf Millionen deutsche Touristen ins Land. Wichtig ist die Türkei auch, weil sie angesichts der Bürgerkriege in den Nachbarländern Zuflucht für Flüchtlinge und Rückzugsort für Kämpfer geworden ist. In der Region gibt es auf zahlreichen Ebenen Konflikte, die die internationale Politik noch auf Jahrzehnte herausfordern werden. Die Türkei spielt in vielen dieser Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle. Gleichzeitig ist das Land ein gewichtiger Wirtschaftsstandort. Die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen betrugen 2013 rund 1,8 Milliarden US-Dollar. Gewachsenes Unverständnis Die Verbindungen zwischen der Türkei und Deutschland sind offenkundig. Trotzdem tut man gut daran, an sie zu erinnern. Denn in den vergangenen Jahren ist das Unverständnis gewachsen, auf beiden Seiten wurden Hoffnungen enttäuscht: Die Türkei beklagt sich über die mangelnde deutsche Unterstützung bei ihren Beitrittsbestrebungen zur Europäischen Union. Deutschland andererseits mahnt immer wieder den lahmenden demokratischen Reformprozess in der Türkei an. Viele Türken sagen oft: "Ihr Deutsche, ihr Europäer wollt mit uns ohnehin nichts zu tun haben." Die Entfremdung zwischen der Türkei und Europa zeigt sich auch in Meinungsumfragen. Laut einer Transatlantic-Trends-Studie befürworteten im Jahr 2013 lediglich 44 Prozent der Türken einen EU-Beitritt ihres Landes, 34 Prozent sind dagegen. Viel anders sieht es auch in Deutschland nicht aus: Abschottung ist an der Tagesordnung. Die Mehrheit der Nicht-Muslime in Deutschland lehnt laut einer Bertelsmannstudie den Islam ab, 57 Prozent etwa nehmen den Islam als Bedrohung wahr. Deshalb braucht es besonnene politische Diskussionen und Entscheidungen. Islamisierung in allen Bereichen Die politischen Beziehungen zwischen unseren Ländern sind genauso widersprüchlich wie die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Türkei. Die AKP hat zwar unter ihrem langjährigen Parteivorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan die Modernisierung des Landes binnen weniger Jahre vorangetrieben. Viele Menschen, die über Jahrzehnte ausgegrenzt wurden, Säkulare, Liberale, Aleviten und Kurden, können nun am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Die Partei hat zudem den Einfluss des Militärs und von kriminellen Gruppen zurückgedrängt und dem Land neues Selbstbewusstsein gegeben. Diese unbestreitbaren Erfolge verblassen allerdings mehr und mehr. Denn die AKP hat parallel die Islamisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen vorangetrieben. Sie fördert die Spaltung der türkischen Gesellschaft und nutzt ihre zunehmende Machtfülle, um Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Medien mit ihren Getreuen zu besetzen. Die Erdoğan-Anhänger unterdrücken jeden zivilgesellschaftlichen Widerstand, Behörden prügeln Demonstranten nieder und verfolgen sie strafrechtlich. Zugegebenermaßen bin ich ratlos und entsetzt: Erdoğan wurde früher selbst verfolgt und erniedrigt, heute setzt er die gleichen Mittel gegen seine politischen Gegner ein. Ein mit großer Mehrheit gewähltes Staatsoberhaupt sollte aber die Bürgerinnen und Bürger versöhnen und nicht gegeneinander aufhetzen – zumal der Souverän mehrheitlich ein Präsidialsystem verworfen hat, das die Macht in einer Person konzentriert. Derzeit geht die türkische Armee gegen kurdische Einheiten im eigenen Land, in Syrien und im Irak vor. Wohlbemerkt befohlen von einer Interimsregierung. Das hat offensichtlich innenpolitische Motive: Die Macht der AKP soll konsolidiert werden, bei der sich abzeichnenden Neuwahl will die Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. Sollte allerdings die türkische Regierung nicht einen schnellen Waffenstillstand mit der PKK erreichen, wird es möglicherweise Jahre dauern, das in den Friedensgesprächen entwickelte Vertrauen wieder herzustellen. Dann wäre eine historische Chance, die Beilegung des Kurdenkonfliktes in der Türkei zu schaffen, vertan. Europa muss deeskalieren Angesichts dieser unübersichtlichen und gefährlichen Situation kann die europäische Antwort gegenwärtig nur darin bestehen, zur Entschärfung der Gewalt, zur Deeskalation und zum Knüpfen neuer Kontakte beizutragen. Die noch bestehenden Verbindungen zu allen Seiten dürfen nicht verschüttet werden. Dazu gehört aber auch eine deutliche Sprache. Bemühungen sind dann wirkungsvoller, wenn wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern sowohl auf die türkische Regierung als auch auf die PKK einwirken, die gegenseitige Gewalt unverzüglich einzustellen und den unterbrochenen Friedensprozess fortzusetzen. Die US-Regierung muss zudem offenlegen, ob sie den Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" zu den Bedingungen der türkischen Regierung führen will. Sollte das der Fall sein, wären die europäisch-amerikanischen Beziehungen belastet und eine ohnehin beschädigte Strategie für Syrien und den Irak endgültig verworfen. Die Verantwortlichen in Washington sollten zugleich eines bedenken: Die Regierung in Ankara widersetzt sich nicht allein einem zusammenhängenden kurdischen Gebiet entlang seiner Grenze, sie fühlt sich auch durch neu entstandene Strukturen in syrischen Kommunen herausgefordert. Auch sollten wir in Deutschland alles unterlassen, was zusätzliche Belastungen schaffen könnte. Forderungen nach dem Ende des türkischen EU-Beitrittsprozesses sind schädlich. Die einseitige Aufkündigung von Hilfen im Schatten des syrischen Bürgerkriegs sind angesichts des Elends und zahlreicher Konfliktlagen im Augenblick kontraproduktiv. Die Menschen dort haben Ernsthaftigkeit und Empathie verdient. Rolf Mützenich ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag
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