junge Welt, 05.08.2015

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Erdogan blockiert

Der Türkei droht eine faschistisch gestützte Kriegsregierung

Von Nick Brauns

Fast zwei Monate nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni, bei denen die seit 13 Jahren alleinregierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) mit 41 Prozent der Stimmen ihre absolute Mehrheit verloren hatte, gibt es noch immer keine neue Regierung in der Türkei. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Gezici würden 70,2 Prozent der Türken eine Koalition aus der AKP und der mit 25 Prozent der Stimmen zweitplazierten kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) befürworten. Auch die wichtigen Kapitalverbände des Landes erhoffen sich von so einer großen Koalition ein Ende der gesellschaftlichen Spannungen. Am Wochenende übergaben Dutzende Intellektuelle, Journalisten sowie Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen in der kurdischen Metropole Diyarbakir dem CHP-Vizevorsitzenden Gürsel Tekin einen Appell, in dem sie eine AKP-CHP-Koalition als letzte Chance bezeichnen, einen Krieg wie in den 90er Jahren abzuwenden.

Zu Wochenbeginn endete die erste Runde der Koalitionsgespräche zwischen AKP und CHP. Dabei scheint in wesentlichen programmatischen Punkten eine Annäherung erzielt worden zu sein. Der AKP-Vorsitzende Ahmet Davutoglu »will wirklich eine Koalition bilden und die Probleme des Landes in Angriff nehmen«, hatte der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu in der Nacht zum Monat gegenüber dem Sender Habertürk zuversichtlich über die Absichten des noch amtierenden Ministerpräsidenten geäußert. »Doch die Person, die auf dem Präsidentenposten sitzt, lässt das nicht zu und sorgt weiter für Ärger«, beschuldigte Kilicdaroglu Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, eine Koalitionsbildung zu blockieren. Dahinter steckt Erdogans Befürchtung, dass die eingestellten Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Vetternwirtschaft gegen führende AKP-Figuren wiedereröffnet werden könnten, wenn die AKP die Kontrolle über die Justiz verliert. Unter den Verdächtigen war auch Erdogans Sohn Bilal. Zudem könnte die bisherige Opposition unliebsame Einblicke in Interna des bislang AKP-geführten Staates erhalten – darunter etwa die Unterstützung dschihadistischer Terrorgruppen wie des »Islamischen Staats« in Syrien durch den türkischen Geheimdienst.

Sollte bis zum 23. August keine Regierungsbildung erfolgt sein, muss der Präsident eine Wahlwiederholung einleiten. Lange schien dies Erdogans Präferenz zu sein. Dahinter stand seine Hoffnung, in einer chauvinistisch aufgeladenen Atmosphäre von Krieg und Gewalt Stimmen nationalistischer Wähler von der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) für die AKP zurückzugewinnen und gleichzeitig die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) wieder unter die Zehn-Prozent-Hürde zu treiben. Doch Umfragen zeigen die HDP derzeit trotz einer Zunahme von PKK-Angriffen auf die Armee eher noch gestärkt. Die Luftangriffe auf PKK-Camps und die Aufkündigung des Friedensprozesses durch die Regierung haben noch den letzten konservativ-religiösen Kurden ihre Illusionen in die AKP genommen.

Die AKP werde nicht zögern, im Falle eines Scheiterns der Koalitionsbildung mit der CHP an der Tür der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) zu klopfen, zitierte die Tageszeitung Hürriyet Daily News am Dienstag Vizeministerpräsident Bülent Arinc. MHP-Führer Devlet Bahceli hatte zwar eine Beteiligung an einer Regierung ausgeschlossen, aber erklärt, seiner Verantwortung gegenüber der Nation nachzukommen. Tatsächlich zeichnet sich jetzt die Option einer von der MHP tolerierten AKP-Minderheitsregierung ab. Da es zu den Prinzipien der MHP gehört, niemals gemeinsam mit der prokurdischen HDP abzustimmen, würde sich die MHP bei einer Vertrauensabstimmung gegen eine AKP-Minderheitsregierung enthalten. »Der Kernpunkt dieses Plan B der AKP ist die indirekte Unterstützung durch die MHP, die solange in allen Fällen untätig bleiben wird, wie die Regierung ihren neuen Hardlinerkurs gegenüber den Kurden beibehält«, schrieb der Kolumnist Murat Yetkin am Dienstag in Hürriyet Daily News. Der Preis wäre also eine Verschärfung des Krieges gegen die Kurden im In- und Ausland.