Berliner Zeitung, 06.08.2015 http://www.berliner-zeitung.de/politik/tuerkei-erdogan-setzt-auf-neuwahlen-in-der-tuerkei,10808018,31404222.html Erdogan setzt auf Neuwahlen in der Türkei Von Frank Nordhausen Die Zeit drängt: Bis zum 23. August muss eine neue Regierung gebildet sein. Doch die Chancen stehen schlecht, weil sich der Präsident quer stellt. Gerade erst konnten die Sondierungsgespräche abgeschlossen werden. Zwei Monate sind seit den Parlamentswahlen in der Türkei vergangen, und noch immer hat das Land keine neue Regierung. Die alte unter Ministerpräsident Ahmet Davutoglu amtiert weiter. Derweil treten die Verhandlungen über die Bildung einer Regierungskoalition auf der Stelle. Am Dienstag wurden die Vorgespräche von Davutoglus islamisch-konservativer AKP mit der größten, sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP beendet. Deren Ergebnisse prüfen nun die Parteichefs, dann entscheiden sie bei einem Treffen am Montag, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Haupthindernis sind dabei nicht inhaltliche Differenzen, sondern die ablehnende Haltung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der offensichtlich vorgezogene Neuwahlen anstrebt. Koalitionsgespräche sind in der Türkei nötig geworden, nachdem die AKP bei den Wahlen am 7. Juni ihre absolute Parlamentsmehrheit einbüßte und auf einen Partner angewiesen ist. Die drei parlamentarischen Oppositionsparteien sind untereinander zu uneins, um eine gemeinsame Regierung zu bilden. Wunsch nach Alleinherrschaft Sprecher von AKP und CHP hatten am Dienstag erklärt, dass ihre 30-stündigen Vorgespräche positiv verlaufen seien. Eine Mehrheit der Bevölkerung und auch der Wirtschaftsverbände bevorzugt diese große Koalition. Sie würde das Land stabilisieren, die Spaltung zwischen Säkularen und Religiösen abschwächen und den Friedensprozess mit den Kurden erneuern, schrieben Kommentatoren. Inhaltlich unterscheidet sich die AKP von der CHP vor allem in der Außen-, Sozial- und Sicherheitspolitik sowie in der Frage der politischen Vollmachten des Präsidenten. Parteichef Kemal Kilicdaroglu sagte kürzlich, er glaube zwar, dass Premier Davutoglu eine Koalition mit der CHP ernsthaft anstrebe. „Aber die Person im Präsidentenpalast erlaubt das nicht.“ Erdogan hatte vergangene Woche vor türkischen Journalisten erneut erklärt, er glaube nicht, dass eine Koalitionsregierung dem Land nützen würde. Deshalb bevorzuge er eine AKP-Minderheitsregierung, die so schnell wie möglich Neuwahlen ansetzen könne: „Wenn die Politiker das Problem nicht lösen können, dann wird das Volk es lösen.“ Falls Davutoglu gegen Erdogans erklärtem Willen eine Koalition eingehen würde, könnten präsidententreue AKP-Abgeordnete dies im Parlament leicht verhindern. Der Präsident erwartet, dass eine Neuwahl wieder zu einer Alleinregierung der AKP führt, die dann den Weg für das von ihm gewünschte Superpräsidialsystem freimachen würde. Da vor allem der Wahlerfolg der prokurdischen Linkspartei HDP die absolute AKP-Mehrheit verhinderte, versuchen Erdogan, AKP-Politiker und regierungsnahe Medien, die HDP in die Nähe der PKK-Guerilla zu rücken, zu kriminalisieren und damit wieder unter die Zehnprozenthürde zu drücken. Wenn es nicht zu Koalitionsverhandlungen kommt, ist letztlich aber auch noch ein Bündnis der AKP mit den Rechtsnationalen möglich. Artikel URL: http://www.berliner-zeitung.de/politik/tuerkei-erdogan-setzt-auf-neuwahlen-in-der-tuerkei,10808018,31404222.html
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