tagesanzeiger.ch, 06.08.2015

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«Erdogan hat erwogen, Öcalan freizulassen»

Türkeiexperte Yasar Aydin sagt, der Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK sei bereits im Frühling abgebrochen worden. Der Grund: Erdogan soll nicht Superpräsident sein.

Aus Sicht der Kurden, die mit der PKK verbündet sind, hat die Türkei den Friedensprozess schon lange aufgegeben. Sehen Sie das auch so?
Der Friedensprozess war von Beginn an spannungsgeladen. Trotzdem gaben im Februar dieses Jahres Vertreter der prokurdischen Partei HDP und der Regierung eine gemeinsame Erklärung ab. Danach sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan aber, dass er davon nichts gewusst habe und nichts davon halte. Im Wahlkampf sprach Erdogan dann mit harscher nationalistischer Rhetorik und ­polemisierte gegen die Kurdenbewegung. Offiziell beendet erklärte Erdogan die Friedensverhandlungen erst im Juli nach dem Anschlag auf Suruç, höchstwahrscheinlich durch den Islamischen Staat.

Worum ging es in dieser Vereinbarung?
Um die Entwaffnung der PKK. Aber bereits davor warf die Regierung der PKK vor, dass sie ihre bewaffneten Einheiten nicht zurückgezogen habe, wie sie dies zu Beginn der Friedensverhandlungen im Februar 2013 versprochen hatte. Die PKK hat in den letzten zwei Jahren ihre illegalen Strukturen weiter ausgebaut. Es gibt Videoaufnahmen davon, wie PKK-Militante Passkontrollen durchführen. Auf der anderen Seite wirft die PKK der türkischen Regierung vor, dass die Armee in ehemaligen PKK-Stellungen Wachposten baue.

Selahattin Demirtas, Vorsitzender der HDP, sagte gegenüber der NZZ, die Versammlung, die zur ­Entwaffnung führen sollte, ­ sei geplatzt.
Die Verhandlungsparteien werfen sich gegenseitig Wortbruch vor. Zudem gibt es Zielkonflikte. Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan hat ein grosses Interesse daran, in Freiheit zu kommen. Die PKK-Führung im Nordirak ist daran interessiert, ein Machtfaktor in der Region zu bleiben. Dafür ist eine Waffenniederlegung kontraproduktiv.

Wie reagierte Erdogan?
Seine islamisch-konservative AKP wiederum hat versucht, die Fortsetzung der Verhandlungen an eine mögliche Verfassungsänderung zu knüpfen. Erdogan ­erwartete, dass die HDP bei der Einführung eines Präsidialsystems hilft, welches ihn mit mehr Macht ausgestattet hätte. Als der HDP-Vorsitzende Demirtas im März sagte, er werde Erdogan nicht zum Staatspräsidenten machen, brachte dies das Fass bei der AKP zum Über­laufen. Vermutlich hofften die AKP auf einen Deal: Ihr helft uns bei der Verfassungsänderung, und Öcalan kommt frei. Erdogan scheint erwogen zu haben, den PKK-Führer freizulassen.

Das ist der Grund für das Ende des Friedensprozesses?
Hätte sich die HDP nicht gegen das Präsidialsystem positioniert, wären diese Verhandlungen vermutlich nicht ausgesetzt worden.

Seit dem Anschlag auf Suruç und dem Mord an zwei türkischen Polizisten durch die PKK wird wieder gekämpft. Wer ist schuld an dieser Eskalation?
Mit der Ermordung von den zwei Polizisten hat die PKK der Regierung einen Vorwand gegeben, gegen sie vorzugehen. Das war nicht sehr klug. Aus der Sicht der Regierung bekämpft die Staatsmacht bewaffnete Menschen innerhalb ihres Territoriums. Aber die HDP ist an der Eskalation mitschuldig. Sie behauptet, die AKP sei in den Anschlag von ­Suruç verwickelt. Das ist eine Verschwörungstheorie, so etwas müsste man beweisen können. Vor den Wahlen war die HDP verantwortungsbewusster, danach reagierte sie emotional. Demirtas wird nun zum Vorwurf gemacht, die Bevölkerung aufgehetzt und zur Bewaffnung aufgerufen zu haben.

Könnte die Türkei die Mörder nicht strafrechtlich verfolgen statt der PKK den Krieg zu erklären?
Der Krieg wurde auch von der PKK erklärt. Es gab nicht nur die Ermordung dieser beiden Polizisten. Die Anschläge auf türkische Streitkräfte haben schon vorher zugenommen. Laut der türkischen Regierung hat die PKK seit dem Wahltag im Juni 281 Anschläge verübt. Es ist schwierig für einen Staat, nicht zu reagieren.

Sie beschreiben das Verhalten der PKK als «nicht sehr klug». Wer hat das Sagen in der PKK?
Ich will nicht darauf spekulieren, dass es ein Zerwürfnis zwischen Öcalan und der PKK gibt. Die Führung im Nordirak hat das Sagen, natürlich steht die PKK hinter Öcalan als Verhandlungsführer.

Könnte Öcalan die heutige Situation verändern?
Ich bin nicht sicher, ob er alleine den bewaffneten Kampf beenden könnte. Die PKK ist nicht mehr eine rein türkische Organisation. Daraus ist eine transnationale Organisation im Iran, im Irak, in Syrien und in Europa geworden. Die von Öcalan verlesenen Reden hatten einen islamischen Unterton. Das deutet darauf hin, dass er sich eher auf eine Zusammenarbeit mit der AKP einlassen würde. Die Führung im Nordirak und Militante hätten bei einer Waffenniederlegung hingegen viel zu verlieren.

Die HDP sagt, dass sie seit April keinen Kontakt mehr zu Öcalan hat. Wird er isoliert, seit Erdogan ­entschieden hat, den ­Friedensprozess abzubrechen?
Anscheinend ist die Regierung nicht daran interessiert, dass Öcalan ein­schreitet. Die Türkei versucht den Druck auf die PKK zu verstärken, um die PKK und die kurdische Bewegung zu Kompromissen zu bewegen. Natürlich gab es vorher Angriffe von der PKK, aber der Moment war nicht so günstig. Da die Türkei nun in der Anti-IS-Allianz ist, will die Türkei die Gunst der Stunde nutzen.

Welche Kompromisse strebt die Türkei an?
Etwa, die PKK für möglichst geringe Gegenleistungen zur Waffenniederlegung zu zwingen oder die PKK-nahe Partei der Demokratischen Union, die PYD, in Nordsyrien auf eine mit türkischen Interessen kompatible Linie einzuschwören. Ankara ist daran gelegen, das kurdische Problem zu lösen, ohne die unitäre Struktur des Staates und die Nationalstaatlichkeit aufzugeben.

(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 06.08.2015, 19:37 Uhr)

Yasar Aydin

Der Migrations- und Türkeiforscher lehrt an der Hafencity-­Universität Hamburg. Zuletzt forschte er über die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland.