tagesanzeiger.ch,
06.08.2015
http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Erdogan-hat-erwogen-Oecalan-freizulassen/story/28226027
«Erdogan
hat erwogen, Öcalan freizulassen»
Türkeiexperte Yasar
Aydin sagt, der Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK sei bereits
im Frühling abgebrochen worden. Der Grund: Erdogan soll nicht Superpräsident
sein.
Aus Sicht der Kurden, die mit
der PKK verbündet sind, hat die Türkei den Friedensprozess schon lange
aufgegeben. Sehen Sie das auch so?
Der Friedensprozess war von Beginn an spannungsgeladen. Trotzdem gaben
im Februar dieses Jahres Vertreter der prokurdischen Partei HDP und der
Regierung eine gemeinsame Erklärung ab. Danach sagte Präsident Recep Tayyip
Erdogan aber, dass er davon nichts gewusst habe und nichts davon halte.
Im Wahlkampf sprach Erdogan dann mit harscher nationalistischer Rhetorik
und polemisierte gegen die Kurdenbewegung. Offiziell beendet erklärte
Erdogan die Friedensverhandlungen erst im Juli nach dem Anschlag auf Suruç,
höchstwahrscheinlich durch den Islamischen Staat.
Worum ging es in dieser Vereinbarung?
Um die Entwaffnung der PKK. Aber bereits davor warf die Regierung der
PKK vor, dass sie ihre bewaffneten Einheiten nicht zurückgezogen habe,
wie sie dies zu Beginn der Friedensverhandlungen im Februar 2013 versprochen
hatte. Die PKK hat in den letzten zwei Jahren ihre illegalen Strukturen
weiter ausgebaut. Es gibt Videoaufnahmen davon, wie PKK-Militante Passkontrollen
durchführen. Auf der anderen Seite wirft die PKK der türkischen Regierung
vor, dass die Armee in ehemaligen PKK-Stellungen Wachposten baue.
Selahattin Demirtas, Vorsitzender
der HDP, sagte gegenüber der NZZ, die Versammlung, die zur Entwaffnung
führen sollte, sei geplatzt.
Die Verhandlungsparteien werfen sich gegenseitig Wortbruch vor. Zudem
gibt es Zielkonflikte. Der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan hat
ein grosses Interesse daran, in Freiheit zu kommen. Die PKK-Führung im
Nordirak ist daran interessiert, ein Machtfaktor in der Region zu bleiben.
Dafür ist eine Waffenniederlegung kontraproduktiv.
Wie reagierte Erdogan?
Seine islamisch-konservative AKP wiederum hat versucht, die Fortsetzung
der Verhandlungen an eine mögliche Verfassungsänderung zu knüpfen. Erdogan
erwartete, dass die HDP bei der Einführung eines Präsidialsystems hilft,
welches ihn mit mehr Macht ausgestattet hätte. Als der HDP-Vorsitzende
Demirtas im März sagte, er werde Erdogan nicht zum Staatspräsidenten machen,
brachte dies das Fass bei der AKP zum Überlaufen. Vermutlich hofften
die AKP auf einen Deal: Ihr helft uns bei der Verfassungsänderung, und
Öcalan kommt frei. Erdogan scheint erwogen zu haben, den PKK-Führer freizulassen.
Das ist der Grund für das Ende
des Friedensprozesses?
Hätte sich die HDP nicht gegen das Präsidialsystem positioniert, wären
diese Verhandlungen vermutlich nicht ausgesetzt worden.
Seit dem Anschlag auf Suruç
und dem Mord an zwei türkischen Polizisten durch die PKK wird wieder gekämpft.
Wer ist schuld an dieser Eskalation?
Mit der Ermordung von den zwei Polizisten hat die PKK der Regierung einen
Vorwand gegeben, gegen sie vorzugehen. Das war nicht sehr klug. Aus der
Sicht der Regierung bekämpft die Staatsmacht bewaffnete Menschen innerhalb
ihres Territoriums. Aber die HDP ist an der Eskalation mitschuldig. Sie
behauptet, die AKP sei in den Anschlag von Suruç verwickelt. Das ist
eine Verschwörungstheorie, so etwas müsste man beweisen können. Vor den
Wahlen war die HDP verantwortungsbewusster, danach reagierte sie emotional.
Demirtas wird nun zum Vorwurf gemacht, die Bevölkerung aufgehetzt und
zur Bewaffnung aufgerufen zu haben.
Könnte die Türkei die Mörder
nicht strafrechtlich verfolgen statt der PKK den Krieg zu erklären?
Der Krieg wurde auch von der PKK erklärt. Es gab nicht nur die Ermordung
dieser beiden Polizisten. Die Anschläge auf türkische Streitkräfte haben
schon vorher zugenommen. Laut der türkischen Regierung hat die PKK seit
dem Wahltag im Juni 281 Anschläge verübt. Es ist schwierig für einen Staat,
nicht zu reagieren.
Sie beschreiben das Verhalten
der PKK als «nicht sehr klug». Wer hat das Sagen in der PKK?
Ich will nicht darauf spekulieren, dass es ein Zerwürfnis zwischen Öcalan
und der PKK gibt. Die Führung im Nordirak hat das Sagen, natürlich steht
die PKK hinter Öcalan als Verhandlungsführer.
Könnte Öcalan die heutige Situation
verändern?
Ich bin nicht sicher, ob er alleine den bewaffneten Kampf beenden könnte.
Die PKK ist nicht mehr eine rein türkische Organisation. Daraus ist eine
transnationale Organisation im Iran, im Irak, in Syrien und in Europa
geworden. Die von Öcalan verlesenen Reden hatten einen islamischen Unterton.
Das deutet darauf hin, dass er sich eher auf eine Zusammenarbeit mit der
AKP einlassen würde. Die Führung im Nordirak und Militante hätten bei
einer Waffenniederlegung hingegen viel zu verlieren.
Die HDP sagt, dass sie seit
April keinen Kontakt mehr zu Öcalan hat. Wird er isoliert, seit Erdogan
entschieden hat, den Friedensprozess abzubrechen?
Anscheinend ist die Regierung nicht daran interessiert, dass Öcalan einschreitet.
Die Türkei versucht den Druck auf die PKK zu verstärken, um die PKK und
die kurdische Bewegung zu Kompromissen zu bewegen. Natürlich gab es vorher
Angriffe von der PKK, aber der Moment war nicht so günstig. Da die Türkei
nun in der Anti-IS-Allianz ist, will die Türkei die Gunst der Stunde nutzen.
Welche Kompromisse strebt die
Türkei an?
Etwa, die PKK für möglichst geringe Gegenleistungen zur Waffenniederlegung
zu zwingen oder die PKK-nahe Partei der Demokratischen Union, die PYD,
in Nordsyrien auf eine mit türkischen Interessen kompatible Linie einzuschwören.
Ankara ist daran gelegen, das kurdische Problem zu lösen, ohne die unitäre
Struktur des Staates und die Nationalstaatlichkeit aufzugeben.
(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 06.08.2015, 19:37 Uhr)
Yasar Aydin
Der Migrations- und Türkeiforscher
lehrt an der Hafencity-Universität Hamburg. Zuletzt forschte er über
die Abwanderung türkischstämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland.
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