welt.de, 08.08.2015

http://www.welt.de/politik/deutschland/article144978684/Deutschland-will-Kriegserklaerung-des-IS-nicht-wahrhaben.html

Jesiden und Kurden

"Deutschland will Kriegserklärung des IS nicht wahrhaben"

Tausende Jesiden und Kurden prangern in Köln den Kampf der Türkei gegen die PKK an. Auch Unmut über die Bundesregierung wird laut: Die müsse der Realität ins Auge blicken und die Türkei mäßigen. Von Stefan Laurin, Köln

Sie kamen aus ganz Deutschland, um in Köln zu protestieren. Gegen die Türkei – die ihrer Ansicht nach die kurdischen Truppen bekämpft, statt sich auf den Anti-Terror-Einsatz gegen den Islamischen Staat (IS) zu konzentrieren. Und gegen die deutsche Regierung, die sich nicht klar gegen die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) ausspreche.

Die meisten Demonstranten waren Kurden, Jesiden, Assyrer und Araber. Einig waren sie sich alle in der Ablehnung des IS (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) und in der Unterstützung der in Deutschland als Terrororganisation verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK (Link: http://www.welt.de/themen/pkk/) ). Viele Ordner trugen die Uniform der Peschmerga, der kurdischen Partisanen. Auf zahlreichen Fahnen war das Bild von Abdullah Öcalan (Link: http://www.welt.de/144955578) , dem seit 1999 inhaftiertem Führer der PKK, zu sehen.

Die Zahl der Teilnehmer wurde von Polizei und Veranstaltern unterschiedlich beziffert: Die Beamten vor Ort meldeten der Einsatzleitung 6000 Demonstranten; die Veranstalter schätzten die Teilnehmerzahl hingegen auf 15.000.

Der Zug führte vom Ebertplatz am Dom vorbei zum Heumarkt quer durch die Kölner Innenstadt. Er wurde von einem großen Polizeiaufgebot mehr geschützt als überwacht. Auch in Nordrhein-Westfalen ist die Angst vor Terror seit der Botschaft des IS-Terroristen Mohamed Mahmoud (Link: http://www.welt.de/144841240) in der vergangenen Woche gewachsen; der Fanatiker hatte zu Anschlägen gegen "Ungläubige" in Deutschland aufgerufen.

Yilmaz Günay, der stellvertretende Vorsitzende der Föderation der jesidischen Vereine, erinnerte in seiner Rede an den Massenmord an Menschen seines Glaubens im vergangenen Jahr; damals drangen IS-Terroristen in das von Jesiden bewohnte Sindschar-Gebirge ein. "Wir Jesiden sind die älteste Glaubensgemeinschaft des Nahen Ostens", sagte Günay. "Im vergangenen Jahr kam die Barbarei des Islamischen Staates über uns. Zahllose Jesiden starben, mindesten 2000 Frauen wurden als Sexsklavinnen auf den Märkten von Mossul verkauft."

Damals seien es die Truppen der PKK und ihrer Schwesterorganisation YPG gewesen, welche die Jesiden davor bewahrt hätten, "vollkommen vernichtet" zu werden. Heute kämpften jesidische Einheiten gemeinsam mit diesen Truppen gegen den IS. PKK und YPG seien unverzichtbare politische und militärische Partner der Jesiden, betonte Günay. Nur durch den gemeinsamen militärischen Einsatz sei das Überleben von Jesiden, Christen und Assyrern in der Region gesichert.

Daher könne es nicht sein "dass diejenigen, die das Leben von Hunderttausenden gerettet haben, jetzt mit dem Islamischen Staat auf eine Stufe gestellt und bekämpft werden", kritisierte Günay. "Die türkische Regierung bekämpft nicht den Islamischen Staat, sie bekämpft die PKK."

Nimmt Deutschland das IS-Problem nicht ernst genug?

Gülistan Siverik, eine der Organisatorinnen der Demonstration, warf der Bundesregierung im Gespräch mit der "Welt" Naivität gegenüber dem IS vor. "Deutschland tut so, als ob der Islamische Staat nicht sein Problem sei, weil der Krieg ja Tausende Kilometer weg ist." Über 700 Terroristen der Miliz seien von Deutschland in den Krieg gezogen und hätten gemordet. "Viele sind bereits zurückgekehrt und stellen eine Gefahr dar. Die Bundesregierung scheint nicht wahrhaben zu wollen, dass der Islamische Staat Deutschland den Krieg erklärt hat."

Allein wegen der vielen Kurden und Jesiden, die in Deutschland leben, sei der Krieg auch ein deutsches Problem: "Wir sind doch beides: Kurden und Deutsche. Wir gehören zu diesem Land und wollen, dass unsere Sorgen ernst genommen werden." Fast alle hätten sie Verwandte, die vom Krieg betroffen seien. "Deutschland muss der Türkei klarmachen, dass es nicht sein kann, dass sie Krieg gegen die Kurden führt." Auch über das Verbot der PKK in der Bundesrepublik müsse diskutiert werden.

Auf dem Kölner Heumarkt sprach mit Figen Yüksekdag auch eine der beiden Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die seit der Wahl im Juni im türkischen Parlament vertreten ist. Auch Yüksekdag forderte ein Ende der Angriffe der türkischen Luftwaffe auf kurdische Stellungen und die sofortige Wiederaufnahme von Friedensgesprächen zwischen der Regierung in Ankara und der PKK.

Nach Angaben der Polizei verlief die Demonstration – von "minimalen Zwischenfällen" abgesehen – "absolut friedlich".