welt.de, 07.08.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article144955578/Erdogan-schickt-Delegation-zu-PKK-Chef-Oecalan.html Türkei Erdogan schickt Delegation zu PKK-Chef Öcalan Die türkische Regierung entsendet eine Delegation zum inhaftierten PKK-Chef Öcalan und übermittelt dessen "Kritik an alle Seiten". Die kurdische Opposition spricht von "psychologischer Kriegsführung". Von Deniz Yücel Offenbar will die türkische Regierung den Dialog mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) doch nicht ganz abreißen lassen – oder will zumindest diesen Eindruck erwecken. Wie der Nachrichtensender CNN Türk unter Berufung auf Regierungskreise berichtet, besuchte bereits am vergangenen Wochenende eine Regierungsdelegation den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan (Link: http://www.welt.de/144734805) auf der Gefängnisinsel Imrali. Angeführt wurde die Delegation von Muhammed Dervisoglu, dem Ministerpräsident Ahmet Davutoglu direkt unterstellten Staatssekretär für öffentliche Sicherheit. In diesem Gespräch habe Öcalan, so CNN Türk weiter, sein Bedauern darüber ausgedrückt, dass der Friedensprozess in eine solch schwierige Lage geraten sei, und "scharfe Kritik an alle Seiten geübt" – an der AKP-Regierung, der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP) und an der PKK-Führung im Nordirak. Eckpunkte des Gesprächs seien die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit, das Stagnieren des Friedensprozesses sowie die "emotionalen Erklärungen von Vertretern der Regierung wie der HDP" gewesen, welche zu einer Verhärtung der Fronten geführt hätten. Weitere Einzelheiten nannte der Sender nicht – außer dass Öcalan einen Zeitplan gefordert habe. Der Friedensprozess ist akut gefährdet Im Frühjahr 2013 hatte die PKK einen Waffenstillstand verkündet und bekannt gegeben, dass sie ihre bewaffneten Einheiten aus der Türkei zurückziehen werde. Doch sichtbare Fortschritte für eine politische Lösung wurden seither nicht erzielt, und schon bald stoppte die PKK ihren Rückzug. Mal erklärte sie, dass sie das Ende des bewaffneten Kampfes verschieben werde (Link: http://www.welt.de/140589298) , Anfang Juli, dass sie künftig Bauarbeiten für Straßen und Staudämme, die sie als "militärstrategische Maßnahmen" interpretiere, angreifen werde. Nach dem Terroranschlag von Suruc (Link: http://www.welt.de/144244298) Mitte Juli und dem darauf folgenden Mord an zwei Polizisten (Link: http://www.welt.de/144309357) , den die PKK inzwischen als "nicht abgesprochene Vergeltungsmaßnahme lokaler Kräfte" bezeichnet, begann die Türkei, Luftangriffe (Link: http://www.welt.de/144436294) auf Stellungen des IS in Syrien und der PKK im Nordirak und in der Türkei zu fliegen. Der Friedensprozess ist nun akut gefährdet. Westliche Regierungen haben seither mehrfach das Selbstverteidigungsrecht der Türkei betont, aber zugleich die Türkei dazu aufgerufen, die begonnenen Verhandlungen mit der PKK nicht abzubrechen. Öcalans Angehörige, Anwälte und Abgeordnete der HDP durften ihn seit Anfang April nicht mehr besuchen. Dafür hat die Regierungsdelegation nach ihrem Besuch auf Imrali zwei Abgeordnete der HDP über ihre Unterredung unterrichtet. Die Regierung hätte die HDP dazu aufgefordert, die PKK dazu aufzurufen, die Kampfhandlungen in der Türkei einzustellen und ihre Kämpfer außer Landes zu bringen, meldet CNN Türk. Die HDP-Leute hätten verlangt, selber mit Öcalan zu sprechen, was die Regierungsseite mit Hinweis auf die fortdauernden Kämpfe abgelehnt habe. Dafür werde sie selber den Dialog mit Öcalan fortsetzen. Opposition: Ohne Öcalan kein Frieden Einer dieser beiden Abgeordneten, Idris Baluken, widerspricht dieser Darstellung. Sie hätten sich, so sagte er der Nachrichtenagentur Etha, mit dem Staatssekretär getroffen, um über eine Überführung der sterblichen Überreste von 13 Kämpfern der syrisch-kurdischen Miliz YPG zu reden. Die zwölf türkischen Staatsangehörigen sowie der 21-jährige Deutsche Kevin Jochim (Link: http://www.welt.de/144890479) waren im Kampf gegen die Terrormiliz IS ums Leben gekommen; ihre Leichname werden seit nunmehr zwei Wochen am türkisch-irakischen Grenzübergang in Kühltransportern gelagert. Die türkischen Behörden haben die Überführung bislang abgelehnt. Anlässlich dieses Zusammenkommens habe der Staatssekretär sie über das Gespräch mit Öcalan unterrichtet. Von einer "scharfen Kritik" Öcalans an der HDP sei keine Rede gewesen. Mit der Nachricht über das Treffen mit Öcalan versuche die Regierung nur den Eindruck zu erwecken, dass es positive Entwicklungen gebe. Das sei nichts als "psychologische Kriegsführung". In Wahrheit würden in den kurdischen Gebieten Wälder brennen und Menschen getötet, die Situation erinnere an den Ausnahmezustand früherer Tage. Für die Wiederaufnahme des Dialogs müssten die Angriffe auf die PKK eingestellt und Öcalan aus der Isolationshaft befreit werden. Anfang der Woche hatte der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas (Link: http://www.welt.de/143993396) in einer nie zuvor gesehenen Deutlichkeit sowohl die Regierung als auch die PKK dazu aufgefordert, den "Finger vom Abzug zu nehmen". Gegen Demirtas und seine Cochefin Figen Yüksekdag läuft ein Verfahren (Link: http://www.welt.de/144558751) zur Aufhebung ihrer Immunität. Die Regierung wirft ihnen unter anderem Unterstützung des Terrorismus vor. Der Versuch, direkt mit Öcalan
zu reden, könnte ein Manöver sein (Link: http://www.welt.de/144746825)
, um die HDP als entbehrlich darzustellen und angesichts einer möglichen
Neuwahl, auf die vor allem Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dringt,
eine Botschaft an kurdische Wähler zu senden: Seht, wir halten am Friedensprozess
fest. Dafür müsst ihr aber uns wählen und nicht die HDP – mit ihr ist
der Krieg zurückgekehrt.
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