Neue Zürcher Zeitung, 09.08.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/in-der-tuerkei-deutet-alles-auf-neuwahlen-hin-1.18592811

Regierungsbildung in der Türkei

Alles deutet auf Neuwahlen hin

Mehr als zwei Monate nach der Parlamentswahl hat die Türkei weiterhin keine neue Regierung. Das liegt auch an Präsident Erdogan. Er setzt auf Neuwahlen.

von Inga Rogg, Istanbul

Die kurdische Partei HDP beendete Erdogans Traum vom Präsidialsystem zumindest vorläufig – hier demonstrieren ihre Unterstützer in Istanbul. Unterstützer der HDP an einer Demonstration in Istanbul. (Bild: Sedat Suna / Epa)

Beinahe täglich fordern die Zusammenstösse zwischen Sicherheitskräften und Kämpfern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) inzwischen Tote. Hunderte von Personen, vor allem Kurden, hat die Polizei unter dem Vorwurf, Terroristen zu unterstützen, festgenommen. Mit jedem Tag, der vergeht, droht der alte Konflikt weiter zu eskalieren.

Das Ende der Alleinherrschaft

Viele Türken fragen sich, warum das gerade jetzt geschieht. Für die amtierende Regierung ist die Antwort klar: Die PKK ist schuld. Sie wolle das Land ins Chaos stürzen. Die Kurden beschuldigen die Regierung und vor allem Präsident Recep Tayyip Erdogan, er setze auf Krieg, um die Demokratische Partei der Völker (HDP) vor möglichen Neuwahlen so weit zu schwächen, dass sie den erneuten Einzug ins Parlament nicht schafft. Mit dieser Meinung sind die Kurden keineswegs allein. Regierungskritische türkische Kommentatoren sind ebenfalls überzeugt, Erdogan habe es auf Neuwahlen angelegt und wolle die HDP mit allen nur erdenklichen Mitteln schwächen.

Mit ihrem Erfolg von 13 Prozent in den Parlamentswahlen vom 7. Juni hat die HDP Erdogans Träumen von einem Präsidialsystem, das auf ihn zugeschnitten ist, ein Ende bereitet. Zugleich verlor seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mit dem Einzug der HDP ins Parlament erstmals seit 2002 die Regierungsmehrheit. Nun gefällt es keiner Partei, wenn sie die Macht verliert. Aber Erdogan hatte bisher immer gesagt, der «nationale Wille» sei alles, was zähle. Dass er darunter einzig und allein Wahlen versteht, hat er ebenfalls immer wieder deutlich gemacht.

Aber schon kurz nach der Wahl liess Erdogan durchblicken, dass ihm der «nationale Wille» in diesem Fall wenig gefällt. Düster warnte er vor instabilen Verhältnissen unter einer Koalitionsregierung wie vor der AKP-Alleinherrschaft. Ihm treu ergebene Medien hatten seit Wochen Neuwahlen propagiert. Mit einiger Verzögerung erteilte Erdogan schliesslich dem amtierenden Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu den Regierungsauftrag. Dabei ist die HDP als möglicher Koalitionspartner mittlerweile ausgeschieden. Mit der rechtsgerichteten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die wie die HDP auf 80 Sitze kam, hätte die AKP die grösste politische Schnittmenge. Vergangene Woche erteilte die AKP Koalitionsverhandlungen aber eine Absage, obwohl Erdogan den Friedensprozess, wie von der MHP gefordert, beendet hat. So bleibt für Davutoglu als möglicher Regierungspartner nur noch die Republikanische Volkspartei (CHP), die mit 132 Abgeordneten die zweitgrösste Fraktion bildet.

Erdogans Steigbügelhalter

Mit der CHP hat Davutoglu Vorgespräche geführt, und am heutigen Montag steht ein Treffen mit CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu auf dem Programm, dann sollen ernsthafte Verhandlungen beginnen. Kilicdaroglu, der oft als blass gilt, hat dabei bisher eine gute Figur gemacht. Immer wieder hat er erklärt, das Landeswohl müsse über Partikularinteressen stehen. Doch zwischen beiden Seiten klaffen tiefe Gräben. So fordert die CHP nach Angaben von Unterhändlern eine komplette Neuausrichtung der Aussenpolitik, deren Architekt Davutoglu ist. Auch die Erziehungspolitik mit der von der AKP forcierten Stärkung der sunnitischen Religionsschulen ist ein heisses Eisen. Im Friedensprozess, dessen Wiederaufnahme die CHP fordert, sowie in der Frage der Anhebung der Mindestlöhne scheint eine Einigung eher möglich. Dass die AKP einer neuen Verfassung, die auch die CHP will, ohne Präsidialsystem zustimmt, gilt dagegen als ausgeschlossen.

Bis zum 23. August hat Davutoglu Zeit. Scheitern die Gespräche, kann Erdogan Neuwahlen anordnen. Darauf setzt auch die MHP, die sich derzeit wie der Steigbügelhalter von Erdogan geriert und in ihrer Hetze gegen die HDP die regierungsnahe Presse noch übertrifft. Es wäre das vierte Mal seit März 2014, dass die Wählerinnen und Wähler an die Urnen gerufen werden.