junge Welt, 12.08.2015

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»Der Staat hat schuld an dem Attentat«

Ihr Sohn Bedrettin fiel als Freiheitskämpfer in Kobane. Danach wurde sie Augenzeugin des Suruc-Massakers. Ein Gespräch mit Sabiha Akdeniz

Interview: Peter Schaber, Suruc

Sie waren auf dem Weg nach Kobani, als Sie in der an der syrischen Grenze gelegenen türkischen Stadt Suruc Augenzeugin jenes Bombenattentats auf sozialistische Jugendliche wurden, das am 20. Juli 32 Menschen das Leben kostete. Zuvor ist Ihr Sohn in Rojava im Norden Syriens bei der Verteidigung der Revolution gefallen. Was waren seine Beweggründe, dorthin zu gehen?

Schon bevor er nach Kobani ging, war mein Sohn nach Suruc gefahren und hat dort humanitäre Hilfe an der Grenze geleistet. Er hat dort oft mitgearbeitet, er ist immer wieder hingefahren. Er hat mir gesagt: Ich ertrage den Anblick nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus. Ich habe die Verwundeten gesehen, ich habe gesehen, wie der Staat dort mit den Menschen umgeht. Einmal hat die Polizei ein Auto angezündet, das voll mit Hilfsgütern war, und die Helfer dann daran gehindert, es zu löschen. Er hat grundlose Verhaftungen gesehen und viel Unterdrückung. Er könne nicht mehr schlafen, wenn er an die Menschen dort denke.

Eines Tages hat er mir dann gesagt, dass er weggehen werde, aber nicht nach Kobani. Ich habe ihn verstanden, er hat mir ja oft von seinen Gefühlen erzählt. Er hat nicht offen gesagt, dass er geht, um zu kämpfen, aber selbst wenn er es gesagt hätte, hätte ich ihn verstanden. Als Mutter hätte ich wahrscheinlich dennoch versucht, ihn aufzuhalten. Er hat es mir wahrscheinlich deshalb nicht erzählt. Aber ich weiß auch, dass ich ihn ohnehin nicht hätte überreden können zu bleiben.

Später kam dann die Nachricht, dass er als Märtyrer gefallen ist. Für eine Mutter ist diese Nachricht schwer zu ertragen, es verbrennt einen innerlich. Oft küsse ich das Foto meines Sohnes und frage mich: Wo bist du jetzt? Aber ich verstehe seine Motivation, ich verstehe, warum er gegangen ist.

Er hatte gute Gründe. Er war schon vorher einmal während der kurdischen Neujahrsfeierlichkeiten, während Newroz, verhaftet worden. Und als er in der Polizeiwache saß, läutete sein Telefon. Unglücklicherweise hatte er kurdische Musik als Klingelton. Dafür ist er dann zweieinhalb Jahre ins Gefängnis gegangen. Er konnte damals nicht einmal Kurdisch, er mochte nur die Musik, weil er eben selber Kurde war. Und natürlich hatte er Sympathien für die revolutionäre Bewegung. Das sind Gefühle, die auch ich habe. Warum sollte er dafür ins Gefängnis? Ich kann verstehen, wie dieses Unrecht sich für ihn angefühlt hat. Es war konsequent, dass er nach Suruc gegangen ist, um zu helfen. Und es war konsequent, dass er wegen der Dinge, die er in Suruc gesehen hat, nach Kobani gehen wollte.

Heute, nach dem, was ich in Suruc gesehen habe, würde ich auch nach Kobani gehen, wenn ich könnte. Hätte ich nicht meine drei Kinder, um die ich mich kümmern muss, würde ich ohne Zweifel gehen. Nach dem, was ich in Suruc gesehen habe, kann ich nicht mehr antworten, es geht mir gut, wenn man mich fragt, wie es mir geht. Ich kann heute die Beweggründe meines Sohnes noch besser verstehen.

Was hat Sie dann dazu bewogen, ebenfalls in Richtung Kobani aufzubrechen?

Ein Monat, bevor mein Sohn starb, hatte ich einen Traum. Darin sagte mein Sohn zu mir: Ich bin gefallen, Mutter. Ich habe sein Grab in dem Traum gesehen. Und dann kamen die Nachrichten von seinem Tod. Ich wollte darauf nach Kobani reisen. Ich wollte den Ort sehen, an dem mein Sohn gestorben ist. Ich wollte herausfinden, ob es der Ort ist, den ich in meinem Traum gesehen habe.

Deshalb bin ich nach Suruc gefahren. Genossen aus der Sozialistischen Partei der Unterdrückten und aus anderen revolutionären Organisationen, die in Rojava arbeiten, haben mir die Gelegenheit gegeben, nach Suruc zu fahren.
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Also bin ich mitgefahren, im Herzen den Wunsch nach Vergeltung. Als ich dann im Bus mit den Jugendlichen nach Suruc saß, habe ich bemerkt, dass keiner von ihnen Hass oder Rachegefühle hatte, so wie ich sie fühlte. Sie redeten nie über Krieg, sie redeten über Frieden. Einige hatten Spielzeug für Kinder in Kobani dabei, andere wollten medizinische Hilfe organisieren, manche wollten einen Park aufbauen. Sie alle hatten den Traum, Neues in Kobani aufzubauen. Ich fühlte Scham, denn ich hatte nichts mitgebracht außer Hass auf die Mörder meines Sohnes.

Am 20. Juli waren Sie dann in Suruc …

An diesem Tag bin ich Wasser kaufen gegangen, zusammen mit meinem älteren Sohn, der auch mitgefahren ist. Während wir Wasser holten, geschah die Explosion. Wir sind dann zurückgelaufen. Ich hatte einen Schock. Mein erster Gedanke war, ich muss auf meine Füße achten. Ich hatte große Angst davor, auf ein Körperteil eines Menschen zu treten, den ich noch am Morgen umarmt hatte.

Die Polizei war da, Soldaten waren da. Einige von ihnen haben gelacht. Sie haben dann die Straße gesperrt. Sie verhinderten, dass Hilfe durchkommen konnte. Ein gepanzertes Polizeifahrzeug hielt mich an, die Polizisten richteten eine Waffe auf mich. Sie wollten uns Angst machen, sie sagten uns: Hört auf zu schreien! Aber wie sollten sie mir Angst machen in einer Situation wie dieser?

Ich habe angefangen, auf das Polizeifahrzeug mit meinen Händen einzuschlagen, bis sie weggingen. Sie haben sich nicht getraut zu schießen. Das war ihr Fehler. Wenn sie auch nur eine Person am Leben lassen, wird der Widerstand weitergehen. Sie haben Menschen in Suruc in tausend Stücke gerissen. Aber sie können nicht verstehen, dass jeder einzelne, den sie am Leben lassen, eine Gefahr für sie werden wird. Mit Polizeifahrzeugen können sie uns keine Angst mehr machen.

Wer steht Ihrer Meinung nach hinter dem Attentat?

Ich gebe dem Staat die Schuld an diesem Bombenattentat. Ich habe gesehen, wie die Situation vor dem Massaker war. Als wir im Bus waren, sagte man uns, dass die Polizei uns stoppen und kontrollieren würde. Aber sie haben uns nicht angehalten, sondern den ganzen Weg lang nur beobachtet. Sie verbreiten jetzt Lügen, dass wir unsere eigene Security gehabt hätten. Das war nicht der Fall. Die Polizei hat keinerlei Sicherheit hergestellt. Und sie umstellten das Gebiet direkt nach dem Attentat. Es war offensichtlich, was hier vor sich geht. Der türkische Staat hat schuld an dieser Mordtat. Es sollte die Botschaft gesendet werden: Wenn ihr den Kurdinnen und Kurden helft, wenn ihr mit ihnen zusammenarbeitet, wenn ihr neue Wege zu leben finden wollt, wird genau das mit euch passieren. Das war die Botschaft des Staates, nicht die des »Islamischen Staats«.

Nach dem Attentat fühlte ich mich schlecht, weil ich Wasser kaufen gegangen war. Warum sie, warum nicht ich, habe ich mich gefragt. Danach habe ich mich viel mit dem, was passiert ist, beschäftigt, auch mit den Motivationen meines Sohnes. Ich weiß jetzt, dass er recht hatte. Ich bin heute sehr stolz auf ihn.

Haben Sie nach dem Tod ihres Sohnes, nach dem Massaker in Suruc Unterstützung bekommen, um diese Ereignisse verarbeiten zu können? Wie hat der Staat reagiert? Haben die linken Organisationen Ihnen geholfen?

Natürlich kam die größte Unterstützung nach diesen beiden Ereignissen von den revolutionären Organisationen und von den Freunden meines Sohnes. Der Staat hat ja nicht einmal Mitgefühl für die 32 Toten von Suruc geäußert, noch weniger werden sie Mitgefühl für meinen Sohn haben.

Die einzige »Unterstützung«, die wir von diesem Staat bekommen, ist, dass er unsere Söhne tötet. Mein Sohn war der einzige, der in der Familie Arbeit hatte, bevor er starb. Er hatte einen Beruf, eine Ausbildung. Mein Sohn hatte vorher nie auch nur ein Messer bei sich. Welche Mutter gibt ihrem Sohn eine Waffe in die Hand? Keine Mutter will das. Die Situation, die der Staat schafft, zwang meinen Sohn, zu tun, was er tat. Es ist die Regierung, die Menschen dazu bringt, einander zu töten.

Nach Suruc wurde der Druck auf die Kurdinnen und Kurden größer. Es gab Razzien gegen die kurdische Befreiungsbewegung, türkische Kampfjets fliegen Luftangriffe. Haben Sie noch Hoffnung auf Frieden?

Ich denke, die Situation wird sich eines Tages verbessern. Es gibt keine andere Möglichkeit. Tyrannen kommen und gehen. Wir haben hier viele grausame Menschen, die ihre Macht erhalten wollen. Aber das wird nicht ewig andauern. Am Ende werden sie weichen müssen. Die Menschen beginnen zu verstehen. Wir wissen nicht, was danach kommt, aber jedenfalls kann es nicht so bleiben, wie es ist. Vielleicht wird es viel Blutvergießen geben, und wir werden mehr von unseren Liebsten verlieren, aber irgendwann wird die Situation besser werden.

Ich will meine Stimme für die anderen Mütter erheben. Nicht nur für die Mütter auf unserer Seite, sondern auch für die Mütter, deren Söhne als Soldaten in den Krieg ziehen. Wir haben gesehen, wie Premier Ahmet Davutoglu mit den Müttern von gefallenen Soldaten weinend auf einem Foto posierte. Diese Mütter waren Mütter, die betonten, ihre Söhne »für das Vaterland« geopfert zu haben. Aber es gab eine andere Mutter eines türkischen Soldaten, die sagte: Mein Vaterland war mein Sohn. Warum war Davutoglu nicht bei ihr? Warum steht er nicht an der Seite dieser Mutter?

Ich hoffe, dass die Mütter beider Seiten sich vereinen, um eine Veränderung herbeizuführen.