vol.at, 12.08.2015

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Der stumme Vermittler: Öcalan verliert die Kontrolle

Der wohl einzige Mann, der im neu aufgeflammten Konflikt zwischen der Türkei und der verbotenen Kurdenpartei PKK vermitteln könnte, ist stummgeschaltet.

Schon seit Monaten darf PKK-Chef Abdullah Öcalan auf seiner Gefängnisinsel Imrali keinen Besuch mehr von prokurdischen Politikern erhalten, die während der seit 2012 laufenden Friedensgespräche mit der türkischen Regierung sein verlängerter Arm in die Freiheit waren.

Unterdessen lässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan PKK-Lager im Nordirak bombardieren, kurdische Extremisten verschärfen ihre Angriffe auf die Sicherheitskräfte, der 2013 ausgerufene Waffenstillstand liegt in Scherben – und es fehlt Öcalans Stimme, die zwischen den verfeindeten Parteien vermitteln könnte.

Genau das war Öcalan, der 1984 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den bewaffneten Kampf führte, schon einmal gelungen, als der Streit um die Verteidigung der syrischen Kurdenstadt Kobane auch in der Türkei mit heftigen Protesten hochkochte und Dutzende Tote kostete. Doch diesmal ist er draußen, schon vor der Parlamentswahl im Juni wurden die Besuche prokurdischer Politiker untersagt.

Hochrangige Regierungsvertreter werfen ihm vor, er habe seine bei den Friedensverhandlungen gegebenen Versprechen wie etwa den Rückzug von PKK-Kämpfern auf Stützpunkte im Nordirak nicht erfüllt. Die PKK habe schlicht nicht das getan, was Öcalan versprochen habe, hieß es. Bis dies geschehen sei, werde Öcalan keine weitere Rolle spielen. Zudem dürfte auch die zunehmende Macht der kurdischen Opposition Erdogan dazu veranlasst haben, seinen Kurs zu ändern.

Gefährliche Machtspiele

Denn Erdogan denkt an seine politischen Ambitionen. Die Türkei könnte im Herbst vor einer neuen Parlamentswahl stehen, wenn es Erdogans AKP nicht gelingt, bis dahin ein Regierungsbündnis zu schmieden. Sollte die Gewalt andauern, könnte dies der AKP nationalistische Wähler zutreiben und nicht-kurdische Wähler, die beim Urnengang im Juni der HDP ihre Stimme gaben, an die gewalttätige Seite des kurdischen Nationalismus erinnern.

Experten warnen beide Seiten vor gefährlichen Machtspielen. “Wenn das hier außer Kontrolle gerät, wird es weder dem türkischen Staat noch der PKK gelingen, den Geist in die Flasche zurückzustopfen”, sagt Gareth Jenkins, der ein Experte im Kurdenkonflikt ist und in Istanbul lebt.

Eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses sei davon abhängig, ob Öcalan die Verhandlungsmacht zurückbekomme, sagte der frühere Menschenrechtsanwalt und Chef der Kurdenpartei HDP, Salahattin Demirtas, der seine Partei auch für Wähler außerhalb des kurdischen Nationalismus attraktiv gemacht hatte. Er appellierte an die PKK. Die Organisation “müsse den Finger vom Abzug nehmen”. HDP-Politiker hielten in der Vergangenheit den Kontakt zu Öcalan auf Imrali und dienten diesem als Unterhändler in den Friedensgesprächen.

Mächtigster Häftling der Türkei verliert langsam an Einfluss

Doch während Öcalan für den Kern der PKK-Kämpfer weiter der unangefochtene Anführer ist, haben die Jahre im Gefängnis seinen Einfluss auf das Tagesgeschäft sinken lassen. Dort drängen Jugendgruppen mit weniger Respekt vor Öcalan an die Macht. Sie werden für einen Großteil der jüngsten Gewalt verantwortlich gemacht.

Nun haben zwar weder die PKK noch die Türkei ein Interesse an einem offenen Krieg, aber es gibt auch kaum Anreize für eine sofortige Rückkehr zum Waffenstillstand. Die Wut der kurdischen Jugendlichen über den neuen Ausbruch der Gewalt ist so groß, dass ein Einlenken der PKK einen Gesichtsverlust bedeuten würde.

Erdogan gehe jedoch mit seinem Kalkül, die Gewalt der PKK könnte ihm Stimmen zutreiben, ein großes Risiko ein, warnt der Experte Jenkins. Die PKK werde möglicherweise zunehmend Anschläge in den Großstädten außerhalb des kurdischen Südostens verüben – oder völlig die Kontrolle über die kurdische Jugend verlieren. “Das könnte an hundert oder tausend unterschiedlichen Plätzen geschehen, und es wäre viel gefährlicher als eine Rückkehr zum Aufstand der PKK.” (APA)