Berliner Zeitung, 10.08.2015

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Kolumne

Der Kurdenstaat als Jahrhundertfrage

Von Götz Aly

Protest für Frieden in Istanbul. Bei türkische Luftangriffen an der Grenze zum Irak sind in den vergangenen zwei Wochen etwa 400 Mitglieder der PKK getötet worden. Foto: AFP

Die türkische Luftwaffe fliegt Angriffe gegen die PKK. Linke Terrorgruppen antworten mit blutigen Anschlägen in Istanbul. In der Türkei eskaliert die Gewalt - wieder einmal. Ein Blick zurück an den Beginn des 20. Jahrhunderts.

Am 10. August 1920 diktierten die Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs den Friedensvertrag von Paris-Sèvres. Er zielte auf die Aufteilung des von den europäischen Großmächten schon zuvor stark reduzierten Osmanischen Reichs. Allerdings trat er nicht in Kraft, weil die türkische Regierung, die ihn unterzeichnen musste, von der nationalistischen Revolutionsbewegung Atatürks hinweggefegt wurde. Ziel war es gewesen, folgende Staaten auf der Landkarte zuzuschneiden und vom Osmanischen Reich abzutrennen: Armenien, Syrien, Mesopotamien (später Teil des Iraks), Palästina, Arabien und Kurdistan.

An Kurdistan war der britischen Regierung besonders gelegen. Sie wollte die damals für die Förderung von Erdöl wichtige Region Mosul kontrollieren und eine direkte Landverbindung zwischen den zu schaffenden Staaten Armenien und Kurdistan herstellen – einen Puffer zwischen Persien und einer künftigen Rumpftürkei.

Allerdings betrachtete der in Mesopotamien 1919 eingesetzte britische Gouverneur die Sache skeptisch: „Der Begriff Kurdistan ist eine lockere Umschreibung ohne jede konkrete und allgemein akzeptierte geografische Bedeutung.“ Die in wilden Tälern lebenden Kurden verfügten über kein Nationalbewusstsein, allenfalls über Loyalitäten zu ihren jeweiligen Stämmen. Mit ihnen sei kein Staat zu machen, zumal sie mit allen Nachbarn seit Jahrhunderten verfeindet seien – mit Arabern, Türken und insbesondere mit den Armeniern. (Am Völkermord der Türken an den Armeniern hatten sich 1915/16 Kurden in der Tat beteiligt.) Auf welchen Wegen auch immer gelangte man in London zu der Ansicht, die Kurden wollten in Wahrheit nur eines: ein britisches Protektorat.
Kurden wurden sich selbst überlassen

So entstand der imperialistische Plan „einer arabischen Provinz Mosul, an den Rändern von autonomen kurdischen Staaten (!) gesäumt, die jeweils von einem Stammeshäuptling geleitet und von einem britischen politischen Beamten überwacht werden“ sollten, um die türkische Vormachtstellung zu brechen. Das ließ sich nicht durchsetzen, schon gar nicht gegen Frankreich, das die Kontrolle über Syrien beanspruchte und jeden Einfluss von Kurden und Armeniern unterbinden wollte. Letztere qualifizierte der französische Premier Clemenceau 1919 als gefährliches, unzuverlässiges und geldgieriges Volk.

Derart bedrängt, ließ die britische Regierung untersuchen, ob die Kurden überhaupt reif seien, „das Privileg der Selbstbestimmung zu erhalten“. Darauf antworteten diese mit Aufständen, denen nicht wenige Briten zum Opfer fielen. In der Folge einigten sich Briten und Franzosen, ihre Hände in Unschuld zu waschen und die Kurden sich selbst zu überlassen.

Mochte die Türkei gelegentlich intervenieren, mochten sich die kurdischen Stämme untereinander bekriegen – jedenfalls übernahm die britische Shell 75 Prozent der zuvor türkischen Erdölgesellschaft in Mosul, Frankreich bekam 25 Prozent. Gemeinsam zog man neue Grenzen, wobei die türkische Südgrenze zum Irak noch unbestimmt blieb. Zulasten der Kurden wurde sie erst 1923 im Vertrag von Lausanne festgelegt, nach dem Ende des 1919 begonnenen und dann dramatisch verlorenen griechisch-britischen Aggressionskriegs gegen die Türkei.

Beide, Türken und Kurden, wurden damals Opfer des britischen und französischen Imperialismus. Das prägte sich ein.