freitag.de, 10.08.2015

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Christian Johnson

Ein einzigartiges System

Syrien Die kurdische Politikerin Sinem Muhammed ist überzeugt, dass die türkische Armee ihr Volk angreift, weil dessen Milizen in der nordsyrischen Region dem IS widerstehen

Rückkehr nach Kobane – Häuser ohne Hüter

der Freitag: Nach dem Selbstmordanschlag von Suruc hat die Türkei eine Wende in ihrer Militärstrategie vollzogen. Wie wirkt sich die auf das Kurdengebiet in Nordsyrien aus?

Sinem Muhammed: Nachdem hier der IS besiegt worden ist, hat die türkische Regierung erklärt, dass sie den IS-Terror bekämpfen will. Doch sie hat damit angefangen, die kurdischen Volksschutzeinheiten der YPG anzugreifen, statt gegen den IS zu kämpfen. Am 24. Juli nahmen türkische Panzer das YPG-Gelände westlich von Kobane in Zor Magar unter Beschuss. Und am 26. Juli wurde das gleiche Terrain von sieben Panzern erneut beschossen. Das ist die Fortsetzung ihrer Versuche, unser demokratisches Experiment zu behindern.

Ist die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien, der Sie angehören, wirklich demokratisch legitimiert?

Seit Beginn der syrischen Revolution haben syrische Kurden alle Bereiche des Lebens im Auftrag des Volkes zu organisieren begonnen. Es ging um soziale und wirtschaftliche Belange ebenso wie um die Verteidigung. Dadurch waren sie in der Lage, ihr Volk und ihre Region gemeinsam mit allen Bevölkerungsgruppen zu schützen. Araber, Kurden und syrische Christen haben im Rojava eine Selbstverwaltung mit drei Kantonen errichtet – Afrin, Kobane und Al Jazira (Cizire), die demokratisch verwaltet werden, und in denen jede Einrichtung von einem Mann und einer Frau gemeinsam geleitet wird. Die rechtliche Grundlage dafür ist ein Gesellschaftsvertrag, der von allen Bevölkerungsgruppen im Rojava angenommen wurde.

Sinem Muhammed war einst Co-Vorsitzende der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien. Sie vertritt heute die syrische Kurdengebiete in Europa und ist Leiterin der sozialen Demokratiebewegung Tev-Dem (Foto: Screenshot, Youtube)

Warum, glauben Sie, ist die Türkei dagegen?

Von Anfang an hat die türkische Regierung alles versucht und tut immer noch ihr Bestes um unser demokratisches Experiment im Rojava zu behindern und scheitern zu lassen, etwa durch Unterstützung der IS-Banden beim Angriff auf Kobane. Nach wie vor nutzt die türkische Regierung die IS-Terroristen um unsere Gebiete anzugreifen. Eine Woche, nachdem wir deren Verbindungswege bei Tel Abiad gekappt hatten, war am 25. Juni 2015 das Massaker von Kobane die Antwort, bei dem Frauen und Kinder getötet wurden.

Wollen die Kurden in Nordsyrien einen eigenen Staat?

Kurden sind die ursprüngliche Bevölkerung im Rojava. Sie haben ihre eigene Sprache und Kultur und besitzen Ländereien. Gemeinsam mit anderen Kurden, Arabern und syrischen Christen haben wir dort unsere eigene Selbstverwaltung aufgebaut, ein in Syrien einzigartiges System. Wir fordern die Errichtung eines demokratischen und pluralistischen Syrien. Wir wollen uns nicht von Syrien absondern. Und unsere Selbstverwaltung ist für keines unserer Nachbarländer eine Bedrohung.

Die türkische Regierung rechtfertigt ihre Angriffe auf Sie und die PKK im Nordirak mit der Ermordung von türkischen Polizisten nach dem Attentat in Suruc am 20. Juli.

Die türkischen Angriffe gegen die PKK sind nach unserer Erkenntnis keine Reaktion auf die Ermordung der beiden türkischen Polizisten, sondern schon vor dem Suruc Attentat vom türkischen Geheimdienst geplant und vorbereitet worden, einfach weil der IS im Senjar Gebirge und in Kirkuk von Kurden besiegt wurde, genauso wie im syrischen Rojava, wo Kurden den IS in Kobane und Tel Abiad bezwungen haben. Die türkische Regierung greift die Kurden an, weil sie den IS besiegt haben.

Der türkische Premier Ahmet Davutoglu hat der kurdischen Demokratischen Union (PYD) über die Medien angeboten, in einem künftigen syrischen Staat unter zwei Bedingungen eine Rolle zu spielen: Sie soll jede Verbindung zum Assad-Regime kappen und mit bestimmten anderen Gruppen kooperieren.

Herr Davutoglu weiß sehr genau, dass wir keine Beziehungen zum Assad-Regime haben, sondern uns mit diesem im Krieg befinden, etwa in Al Hassaka. Wir kämpfen jedoch nur, um unser eigenes Volk zu beschützen, nicht um Wünsche und Ansprüche von Dritten zu erfüllen. Das hat die PYD immer wieder erklärt. Und unsere Streitkräfte bestehen nicht nur aus Kurden der YPG, hier kämpfen viele Truppen anderer revolutionärer Gruppen wie Burkan Al Furat und Thuwar Al Raqah gemeinsam Seite an Seite gegen den IS. Die anderen Gruppen, bei denen der Ministerpräsident will, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten, sind solche wie Jabhat Al Nusra, dazu salafistische Formationen. Die türkische Regierungspartei AKP gilt zwar als „gemäßigt islamistisch“, akzeptiert aber anderweitig keine gemäßigten Gruppen, gerade jetzt hat die Jabhat Al Nusra die moderaten Gruppen in Azaz verhaftet.

Und was ist mit der vom Westen anerkannten syrischen Exilregierung? Wäre eine Zusammenarbeit möglich?

Die vom Westen anerkannte Nationale Koalition der syrischen Revolutionskräfte hat dieselbe chauvinistische Mentalität. Sie respektieren nicht die Rechte der Kurden und die – auch von Arabern und Christen getragene – demokratische Selbstverwaltung im Rojava. Als wir Tel Abiad vom IS befreit haben, war die Nationale Koalition dagegen und hat uns wegen angeblicher ethnischer Säuberungen kritisiert, die wir nicht begangen haben. Wir sind aber bereit, uns mit demokratischen Kräften in der Koalition zu verständigen, die an ein demokratisches Syrien glauben.

Hat der Westen mit dem Eintritt der Türkei in die Anti-IS-Koalition die eben noch mit ihnen kämpfenden Kurden verraten und im Stich gelassen?

Die Rolle der Internationalen Koalition unter Führung der USA wissen wir zu schätzen, sie unterstützt nach wie vor Seite an Seite die Einheiten mit Luftschlägen, die gegen die IS-Terroristen kämpfen und gezeigt haben, dass sie bislang die einzigen Truppen sind, die den IS in Syrien besiegen konnten. Im Rojava sind wir von niemandem abhängig. Wir hängen vor allem von unseren Bodentruppen ab, zu denen arabische, christliche und kurdische Streitkräfte gehören, und diese Truppen verraten uns nicht. Im Rojava verlassen wir uns auf unser Volk und die Freunde der Kurden. Solche wie die Internationale Koalition gegen den IS.

Und was ist mit Wiederaufbauhilfe? Der Deutsche Evangelische Kirchentag zum Beispiel hat sie in einer Resolution für Nordsyrien dringend gefordert – im Gegenzug für die Gewährleistung von Menschenrechten.

Was die Menschenrechte betrifft, ist die Selbstverwaltung im Rojava von deren Grundsätzen überzeugt. Wir sind offen für Besuche von Menschenrechtsorganisation in unseren Gebieten. Wir hatten bereits Beziehungen zu einigen dieser Organisationen wie Geneva Call, Human Rights Watch und Amnesty. Besonders wichtig sind uns Frauenrechte. Frauen spielen eine große Rolle in jedem Gremium der Selbstverwaltung. Sie stellen das Regierungsoberhaupt im Kanton Afrin, die Leiterin der Finanz- oder der Wirtschaftskommission und sie hatten eine führende Rolle beim Schutz der Menschen im Rojava aus allen Bevölkerungsgruppen. Im Rojava kämpfen Volksschutzeinheiten und Frauenschutzeinheiten gegen die IS Terroristen und schützen alle Bevölkerungsgruppen wie Araber und syrische Christen oder Turkmenen. Als YPG sind sie zu einer weltberühmten Streitmacht geworden, weil sie für die Belange aller Frauen in der Welt kämpfen.