Neue Zürcher Zeitung, 13.08.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/riskante-strategie-praesident-erdogans-1.18595730

Türkei steuert auf Neuwahlen zu

Riskante Strategie Präsident Erdogans

Die Koalitionsgespräche der türkischen Regierungspartei AKP mit der oppositionellen CHP sind gescheitert. Neuwahlen dürften kaum noch abzuwenden sein.

von Marco Kauffmann Bossart

Mehr als zwei Monate nach der Parlamentswahl hat die religiös-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Koalitionsverhandlungen mit der Republikanischen Volkspartei (CHP) beendet. Der amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erklärte nach einem mehrstündigen Treffen mit dem Chef der grössten Oppositionskraft, Kemal Kilicdaroglu, es gebe keine Grundlage für eine Zusammenarbeit. Vorgezogene Wahlen seien jetzt wohl die einzige Option. Der Vorsitzende der sozialdemokratisch ausgerichteten CHP beklagte, die Türkei habe eine historische Gelegenheit verpasst.

Angeschwärzte Kurdenpartei

Die von Präsident Recep Tayyip Erdogan mitbegründete AKP hatte am 7. Juni ihre absolute Mehrheit verloren. Ausschlaggebend dafür war der Überraschungserfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der viele Kurden angehören. Gespräche über eine Regierungsbeteiligung der HDP scheiterten wegen fundamentaler Differenzen hinsichtlich des Friedensprozesses mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und des von Erdogan forcierten Präsidialsystems. Auch die Konsultationen mit der rechtspopulistischen MHP, die der AKP ideologisch am nächsten steht, kamen auf keinen grünen Zweig.

Erdogan hat seit der schmerzhaften Niederlage von Anfang Juni erkennen lassen, dass er Neuwahlen einer Koalition vorzieht, zumal AKP-Hardliner überzeugt sind, dass sie die absolute Mehrheit zurückerobern können. Ihnen zupass kommt die vor drei Wochen lancierte Militäroffensive gegen die PKK. Seither wird die HDP als Frontorganisation einer terroristischen Gruppierung angeschwärzt. Nicht nur die HDP-Spitze wirft Erdogan vor, seine Strategie ziele darauf ab, die Kurdenpartei aus der Legislative zu verdrängen. Türkische Medien wollen wissen, dass Davutoglu einer grossen Koalition nicht abgeneigt gewesen wäre, doch habe sich das Staatsoberhaupt quergestellt. Gemäss der Verfassung kann der Präsident Neuwahlen ausrufen, wenn bis zum 23. August keine Regierung zustande kommt. Eine Verlängerung der Frist schloss Erdogan aus. Beobachter erwarten, dass im November gewählt wird.

Strapazierte Militärallianz

Im hauptsächlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei drehte sich die Gewaltspirale am Donnerstag weiter. Nach Armeeangaben wurden bei einem Anschlag der PKK und Operationen der Sicherheitskräfte ein Soldat und sieben Rebellen getötet. Ungeachtet der Ankündigung von Ende Juli, sich dem von den USA angeführten Luftkrieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) anzuschliessen, gilt das Augenmerk Ankaras offenkundig der PKK.

Die US-Armee hat derweil zum ersten Mal von der türkischen Militärbasis Incirlik aus Kampfjets gegen die Terrormiliz IS in Syrien eingesetzt. Dies gab das Pentagon am Mittwochabend bekannt. Mit der Nutzung des Stützpunkts in der Südtürkei verkürzen sich die Flugzeiten erheblich. Verwirrung stiftete indes der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu. Er sagte dem Sender Habertürk, die Amerikaner hätten lediglich Aufklärungsmissionen geflogen. Nach zähen Verhandlungen wurde dem Nato-Partner vor drei Wochen erlaubt, bemannte Einsätze von Incirlik aus zu fliegen.

In öffentlichen Verlautbarungen loben die USA die gewachsene Kooperationsbereitschaft der Türkei im Krieg gegen den IS. Doch hinter den Kulissen tönt es weniger diplomatisch: Ankara habe nach einem Vorwand gesucht, um gegen die PKK vorzugehen, zitiert das «Wall Street Journal» Washingtoner Regierungskreise. Laut diesen Quellen bombardierte die türkische Luftwaffe zwar IS-Stellungen in Syrien, um den Beschuss türkischer Grenztruppen vom 23. Juli zu vergelten. Seither seien aber keine Operationen mehr gegen die Jihadisten ausgeführt worden.