Tiroler Tageszeitung, 14.08.2015 http://www.tt.com/home/10378833-91/t%C3%BCrkei-als-erstes-hat-die-regierung-bomben-abgeworfen.csp Türkei: „Als erstes hat die Regierung Bomben abgeworfen“ Istanbul (APA) - Um den eingefrorenen Friedensprozess zwischen Ankara und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wieder aufnehmen zu können, müsse der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan freigelassen werden. Das sagte die Menschenrechtsaktivistin Meral Cildir in einem Interview mit der APA in Istanbul. „Der Friedensprozess kann nur erfolgreich sein, wenn Öcalan aus der Isolationshaft entlassen wird, und die Regierung sich mit ihm, Vertretern der Zivilgesellschaft und Menschenrechtlern an einen Tisch setzt“, meinte Cildir, die stellvertretende Vorsitzende des IHD, dem angesehensten türkischen Menschenrechtsverband im Land, der sich vor allem für Kurden einsetzt. Die Menschenrechtlerin fordert, Öcalans lebenslange Haftstrafe in einen Hausarrest umzuwandeln. Der Kurdenführer sitzt seit 1999 auf der Marmarainsel Imrali im Gefängnis. 2013 wurde zwischen der PKK und der türkischen Regierung ein Friedensprozess angestoßen, der vor rund zwei Wochen vom türkischen Staatspräsidenten auf Eis gelegt wurde. Dennoch sei der Friedensprozess zwischen Ankara und der PKK nicht beendet. „Sowohl das türkische als auch das kurdische Volk wollen Frieden, deswegen wird die Regierung die Verhandlungen mit der PKK fortsetzen müssen“, betonte Cildir, die Ankara Schuld an den Ausschreitungen gibt. „Als erstes hat die Regierung Bomben abgeworfen“, sagte sie. Die PKK habe dann mit Gegengewalt geantwortet. Doch der Konflikt sei nicht militärisch zu lösen. Weil es jeden Tag neue Meldungen von Zusammenstößen zwischen Militärs und der PKK gibt, warnen regierungstreue Medien davor, dass sich der Terror der 1990er Jahre wiederholen könnte, als sich bürgerkriegsähnliche Zustände vor allem im Osten des Landes zwischen Türken und Kurden abspielten. „So weit wird es heute nicht mehr kommen“, ist sich die Menschenrechtlerin sicher. „Sowohl die Türken, als auch die Kurden haben sich geändert. Beide Seiten sind stärker aneinandergerückt. Die Türken haben erkannt, dass Kurde sein nicht gleich bedeutet, ein Terrorist zu sein.“ Es gibt viele Stimmen, die sagen, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan mit der jetzigen Eskalation Neuwahlen anstrebe. Denn rund zwei Monate nach den Parlamentswahlen gibt es immer noch keine Regierung. Sollte es bis zum 23. August zu keiner Koalitionsbildung gekommen sein, kann der Staatspräsident Neuwahlen ausrufen. Deswegen, so Cildir, werde die prokurdische HDP nun von Erdogan diskreditiert. Sie solle bei Neuwahlen erst gar nicht mehr antreten können, weil schon längst als Partei verboten, oder durch die Terrorbeschuldigungen seitens der Regierung nicht mehr genügend Wählerstimmen erhalten, um ins Parlament zu gelangen. Dann würde er seinem Wunsch von einem Präsidialsystem wieder erheblich näher kommen. „Aber diese Rechnung wird nicht aufgehen“, glaubt Cildir. Denn angesichts der anhaltenden Gewalt würden die Menschen auch der Regierung gegenüber immer mehr misstrauen. So würden türkische Mütter heute laut die Frage stellen, warum ihre Söhne in einem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt sterben müssten, nicht aber die Söhne von Regierungsmitgliedern. „Zudem kann Erdogan bei Neuwahlen jetzt kaum mehr mit kurdischen Stimmen rechnen“, so die Menschenrechtlerin. (Das Gespräch führte Cigdem Akyol/APA)
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