welt.de, 14.08.2015

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So lange wählen, bis Erdogan das Ergebnis passt

Die Koalitionsverhandlungen zwischen der AKP und der CHP sind gescheitert. Die Türkei steuert auf Neuwahlen zu. Schuld am Scheitern ist einer, der gar nicht am Tisch saß: Recep Tayyip Erdogan. Von Deniz Yücel
Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu (r.) mit CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu bei Beginn der nun gescheiterten Gespräche
Foto: dpa Der türkische Premierminister Ahmet Davutoglu (r.) mit CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu bei Beginn der nun gescheiterten Gespräche

Das Rednerpult im Gästehaus des türkischen Außenministeriums wurde umsonst aufgestellt. Vor dem Treffen des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu (AKP) und des Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu (CHP) am Donnerstagnachmittag in Ankara hatte es geheißen, im Fall einer Einigung würden die Parteivorsitzenden gemeinsam vor die Presse treten. Sie taten es nicht. Nach knapp anderthalb Stunden gingen sie getrennte Wege. Wortlos, zunächst jedenfalls.

Dieses Treffen setzte den Schlusspunkt unter etwas, das längst zur Farce geworden war: die Koalitionsverhandlungen. Denn man hatte es ja schon fast vergessen: In der Türkei (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei) wurde gewählt, die seit über zwölf Jahren allein regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verfügt über keine Mehrheit im Parlament mehr, was sie freilich nicht daran hindert, einfach weiterzuregieren, mal eben einen Krieg vom Zaun zu brechen (Link: http://www.welt.de/145044854) und auch alles Übrige zu tun, was Regierungen eben so tun.

Von der Öffentlichkeit kaum noch beachtet, liefen derweil die Verhandlungen zwischen AKP und CHP. Nach zusammen 35-stündigen Verhandlungen der Unterhändler kamen am Montag erstmals Kilicdaroglu und Davutoglu zusammen. Der Oppositionsführer hatte Pralinen dabei, die Atmosphäre soll freundlich gewesen sein, weit weg von der aufgeladenen Atmosphäre des Wahlkampfs. Man vereinbarte ein weiteres Treffen am Donnerstag, das nun ohne Ergebnis beendet wurde.

Vorwurf: Islamisierung von Bildung und Erziehung

Es gibt viele inhaltliche Differenzen – beim Thema Schulen etwa, bei dem die sozialdemokratisch-kemalistische CHP der AKP-Regierung vorwirft, sie betreibe die Islamisierung von Bildung und Erziehung, bis zu Fragen der Außenpolitik, wo man weit auseinanderliegt, allem voran beim Thema Syrien.

Aber das war es nicht allein; vielleicht hätte man sich sogar in diesen Fragen einigen können, ebenso wie beispielsweise bei der Erhöhung der Renten und der Mindestlöhne, wie sie die CHP fordert. Am Ende wäre es eine Frage der politischen Verantwortung gewesen: Versucht man, sich über alle Differenzen hinweg zu einigen? Oder führt man das Land in die vierte Wahl binnen weniger als zwei Jahren, nimmt neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Instabilität in Kauf, ohne zu wissen, ob eine Neuwahl zu einem anderen Ergebnis führt als die Wahl im Juni?

"Wir hätten uns geeinigt", sagte der CHP-Abgeordnete Ali Haydar Hakverdi im Gespräch mit der Welt. "Das war kein Problem zwischen der CHP und der AKP. Es gibt viele in der AKP, die eine Koalition wollten. Gescheitert ist nicht die Koalition mit der AKP, gescheitert ist die Koalition mit Erdogan." Hakverdi gehört zum linken CHP-Flügel, der auch nicht allzu froh über eine Koalition gewesen wäre, sich aber wohl der Partei- bzw. der Staatsraison gefügt hätte.

Aus der AKP wird eine Einflussnahme des Präsidenten bestritten. Doch tatsächlich hatte er schon wenige Tage nach der Wahl Neuwahlen ins Gespräch (Link: http://www.welt.de/142157715) gebracht. Nach der Wahl am 7. Juni ließ er etwas mehr als einen Monat verstreichen, ehe er den Auftrag zur Bildung einer Regierung (Link: http://www.welt.de/143753507) erteilte – so lange hatte noch kein Staatspräsident mit diesem formalen Akt auf sich warten lassen. Es war eine für Erdogan nützlich Zeit, weil die Opposition sie dazu nutzte, sich gegenseitig zu zerfleischen (Link: http://www.welt.de/143753507) .

Ich, Erdogan, will keine Koalition

Als er endlich den Auftrag erteilte, war klar: Die drei Oppositionsparteien, die rechnerisch eine Mehrheit im Parlament hätten, würden sich zu keiner wie auch immer gearteten Zusammenarbeit zusammenraufen können. Es fehlte nicht viel, und Devlet Bahceli, Chef der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), hätte erklärt, er würde sich weigern, dieselbe Luft zu atmen wie Selahattin Demirtas, der Covorsitzende der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP).

Noch am Tag des Treffens zwischen Davutoglu und Kilicdaroglu erschien das AKP-Blatt "Yeni Safak" mit der Schlagzeile: "Der Wille des Volks wird das lösen." Ein Zitat des Staatspräsidenten und zugleich eine Ansage: Ich, Erdogan, will keine Koalition. Schließlich errang die AKP trotz deutlicher Stimmenverluste knapp 42 Prozent der Stimmen und verpasste nur um 18 Mandate die Parlamentsmehrheit. Eine Koalition aber würde bedeuten, dass Erdogan nicht wie bisher mit einem De-facto-Präsidialsystem die Zügel in der Hand halten kann.

Am späten Nachmittag trat Davutoglu in der AKP-Zentrale vor die Presse, sagte in einer langen und besonnenen Rede aber nur so viel: Mit der CHP sei ein "ernster und transparenter Dialog" geführt worden, dieser Umstand allein habe Vertrauen geschaffen und sei ein Gewinn für die Türkei. Aber wegen einiger "tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten" habe man sich nicht auf die Bildung einer Regierung einigen können. Die Option mit der MHP schloss er so gut wie aus: "Eine Neuwahl ist eine große Wahrscheinlichkeit", sagte er.

Es gab offenbar kein Koalitionsangebot

Kurz darauf trat Kilicdaroglu vor die Presse. Auch er gab sich betont staatsmännisch, widersprach Davutoglu aber einem entscheidenden Punkt: "Es gab keine Fragen, bei denen wir nichts geeinigt hätten. Wir haben nämlich nur gegenseitig unsere Ansichten in der Bildungs- oder der Außenpolitik vorgetragen. Verhandlungen haben wir nicht geführt", sagte er.

Die Davutoglu habe ihm auch keine Koalitionsangebot gemacht, sondern zwei Optionen vorgeschlagen: Die Tolerierung einer AKP-Minderheitsregierung oder die Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung, die das Land bis zu einer Neuwahl regiert. Beides habe sein Parteivorstand abgelehnt.

Mit dem Scheitern der Gespräche zwischen der AKP und der CHP ist das Thema Koalition noch nicht offiziell erledigt. Die Frist von 45 Tagen für die Bildung einer Regierung, die mit dem Auftrag an Davutoglu begonnen hat, endet am 23. August, also am übernächsten Sonntag.

Wer regiert das Land bis zur Neuwahl ?

Bis dahin dürfte Davutoglu es noch bei der MHP versuchen. Deren Chef Bahceli hat zwar von Anfang an deutlich gemacht, dass er nicht nur jede Zusammenarbeit mit der HDP strikt ablehnt, sondern auch eine Zusammenarbeit mit der AKP. Zuletzt waren allerdings aus der MHP auch andere Signale zu vernehmen, und bei einigen Abstimmungen, bei der Wahl des Parlamentspräsidenten zum Beispiel, hat sich die MHP stets zum Vorteil der AKP verhalten. Doch das Problem Erdogan gilt ja auch für so ein Bündnis.

Eine Zusammenarbeit von AKP und HDP, was ein paar Monate vor der Wahl zumindest im Bereich des Denkbaren schien, ist nach dem harten Wahlkampf zwischen beiden Parteien und vor allem nach der jüngsten Eskalation des Konflikts mit der PKK ausgeschlossen.

Bleiben zwei Fragen: Wer regiert das Land bis zur Neuwahl, die voraussichtlich im November stattfinden wird? Die Verfassung sieht für diesen Fall die Bildung einer Allparteienregierung vor, wobei niemand dazu verpflichtet wäre, einer solchen Regierung beizutreten. Eine andere Möglichkeit wäre die Bildung einer Interimsregierung der AKP und der MHP bis zur Wahl – diese Idee hatte die AKP zuletzt vergeblich versucht, der CHP schmackhaft zu machen. Die dritte Möglichkeit wäre eine von der MHP geduldete Minderheitsregierung der AKP. Ob diese offiziell als neue Regierung firmiert oder der jetzigen Regierung ein Mandat erteilt wird, wäre da bloß eine Formalie.

Wie wird eine Neuwahl ausgehen?

Eine ganz andere Frage lautet: Wie wird eine Neuwahl ausgehen? Jüngste Umfragen zweier Meinungsforschungsinstitute, die das Wahlergebnis einigermaßen richtig vorhergesagt haben, gehen davon aus, dass sich nicht groß etwas ändert: Die AKP und die CHP legen demnach etwas zu, die MHP und die HDP verlieren ein wenig. Kleine Verschiebungen innerhalb des linken und des rechten Spektrums, aber im Wesentlichen nichts Neues: Die leicht geschwächte HDP bleibt über der Zehn-Prozent-Hürde, die leicht gestärkte AKP kann trotzdem nicht allein regieren, was zu einer ganz anderen Frage führt: was dann? Die vergangenen Wochen legen nur eine Schlussfolgerung nahe: So lange wählen, bis das Ergebnis Erdogan gefällt.