Der Standard, 14.08.2015

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Erdogan sucht Weg für Neuwahlen in der Türkei

Markus Bernath

Nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche soll in der Türkei neu gewählt werden. Doch eine Übergangsregierung will der Staatschef nur ungern

Es ist nur ein kleiner Stich und tut auch gar nicht weh: Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu verglich nochmalige Neuwahlen mit einer Impfung für den Bürger. "Impfungen machen den Körper stärker", sagte der konservativ-islamische Premier, nachdem Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten am Donnerstag gescheitert waren. Die Überlegung von Premier und Staatschef: Es wird so lange gewählt, bis die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wieder allein regieren kann. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Juni hatte sie erstmals die absolute Mehrheit verloren. Seither amtiert Davutoglu nur geschäftsführend. Staatspräsident und AKP-Gründer Tayyip Erdogan hatte seinem Parteifreund erst Wochen nach der Wahl einen Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Der läuft am 23. August aus.

Ganz so einfach ist das Prozedere allerdings nicht. Der AKP – sie feierte am Freitag ihren 14. Geburtstag – wäre es am liebsten, das Parlament würde von sich aus für Neuwahlen stimmen. Dagegen sperren sich aber die sozialdemokratische CHP und die Kurden- und Linkspartei HDP, der erstmals der Einzug ins Parlament gelungen war. Setzt Staatspräsident Erdogan Neuwahlen an, legt die Verfassung eine Übergangsfrist von 90 Tagen fest. Die Wahlen würden dann Ende November stattfinden. Bis dahin müsste ein Allparteienkabinett regieren, in dem Justiz- und Innenminister vom Regierungschef bestimmt würden, die anderen Ressorts aber nach Fraktionsstärke verteilt würden. Die Opposition würde also drei Monate lang mitregieren.

An der Verfassung vorbei

Türkische Kommentatoren gingen am Freitag davon aus, dass Erdogan dieses Szenario vermeiden und ungeachtet der verfassungsrechtlichen Bestimmungen bis zu den Neuwahlen eine von Davutoglu geführte Minderheitsregierung im Amt belassen wolle. Theoretisch ist die Frist für eine Koalitionsbildung auch noch nicht ausgeschöpft. Davutoglu könnte noch mit den Rechtsnationalisten der MHP sprechen; sie wollen keine Minderheitsregierung stützen. Erdogan müsste danach den Auftrag für die Regierungsbildung an den Chef der zweitgrößten Parlamentsfraktion geben, den CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu. Auch dies wird nicht erwartet.

Die große Frage ist, was geschieht, wenn die Türken bei Neuwahlen der AKP erneut nicht die Möglichkeit zur Alleinregierung geben. Die HDP sprang im Juni leicht über die Zehn-Prozenthürde und kam auf 13 Prozent und 80 Sitze. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, peilt nun gar ein Ergebnis von 20 Prozent an. So erklärte er zumindest nun in einem Gespräch mit dem Washington Post-Kolumnisten David Ignatius. Das scheint wenig realistisch angesichts des neu entflammten Kriegs zwischen der Türkei und der kurdischen Untergrundarmee PKK. Ein türkischer Soldat starb am Freitag bei der Explosion einer Mine in der südöstlichen Provinz Bingöl. Zwei PKK-Kämpfer wurden bei anschließenden Gefechten getötet, meldeten türkische Medien.

Außenminister rudert zurück

Neue Unstimmigkeiten zwischen den USA und der Türkei über den gemeinsamen Militäreinsatz in Syrien stützen die Auffassung, Ankara benütze den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat nur als Deckmantel für ihr eigentliches Ziel: einen neuen Krieg gegen die PKK, um Unsicherheit im eigenen Land zu schüren, die Kurdenpartei HDP in Bedrängnis zu bringen und deren Führung womöglich ins Gefängnis zu bringen. Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte der Öffentlichkeit am Donnerstag erklärt, die auf dem türkischem Luftwaffenstützpunkt Incirlik stationierten US-Kampfflugzeuge hätten bei ihrem ersten Einsatz am Vortag nicht IS-Stellungen bombardiert. Dem widersprachen die USA. Der türkische Außenamtssprecher korrigierte am Freitag die Aussage seines Ministers. (Markus Bernath, 14.8.2015)