zeit.de, 14.08.2015

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Was die Türken wollen sollen

Die AKP kann oder will sich auf keine große Koalition einlassen. Das vergrößert das Chaos im Land. Die wahrscheinlichen Neuwahlen sind für die AKP nur Mittel zum Zweck. von Özlem Topçu, Istanbul

Özlem Topçu ist normalerweise Politik-Redakteurin bei der ZEIT. Derzeit ist sie Mercator-IPC-Fellow am Istanbul Policy Center und schreibt auf ZEIT ONLINE über Politik und Leben in der Türkei. | © Thies Rätzke

Am Ende war sogar Devlet "Mr. Hayır" Bahçeli plötzlich für eine große Koalition für die Türkei. Der ansonsten nicht unbedingt für seine konstruktive und besonnene Rhetorik bekannte "Herr Nein", Chef der ultranationalistischen Partei MHP, sagte vor einigen Tagen: "In dieser Woche muss die Koalition zwischen der AKP und der CHP beschlossen werden. Die Türkei muss endlich aufatmen." Dabei hatte er selbst noch am Wahlabend Neuwahlen gefordert.

Doch es wird diese große Koalition nicht geben. Die Chefs der beiden Parteien, der regierenden AKP und der Atatürk-Partei CHP, haben die Verhandlungen nach mehreren Treffen für gescheitert erklärt. Die Türkei hat also 70 Tage nach der Wahl immer noch keine Regierung, formal haben die Parteien noch bis zum 23. August Zeit. Doch es sieht schon jetzt ganz nach Neuwahlen aus. Premierminister Ahmet Davutoğlu regiert derzeit als Übergangspremier.

Resümieren wir kurz die Lage in der Türkei. Bei der Wahl am 7. Juni hatte die regierende AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan etwa 10 Prozentpunkte verloren, verantwortlich dafür war die prokurdische HDP, die die hohe Zehnprozenthürde übersprang und ins Parlament gewählt wurde. Die AKP hat die absolute Mehrheit verloren, der Wähler hat klar gesagt: Ich möchte nicht mehr, dass die AKP allein regiert.

Die HDP hatte damit geworben, dass sie das von Staatspräsident Erdoğan favorisierte Präsidialsystem, das dem Staatsoberhaupt mehr Machtbefugnisse einräumen würde, verhindern wolle. "Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen", dieser Satz von HDP-Chef Selahattin Demirtaș wurde zum Slogan. Jetzt, wo alles auf Neuwahlen steht, heißt es: "Wir werden dich wieder nicht zum Präsidenten machen."

Das ist nur eine der aktuellen Konfrontationen im Land. Die Türkei wird seit Wochen durch eine Serie von Anschlägen erschüttert. Erst in der Stadt Suruç an der syrisch-türkischen Grenze am 20. Juli, für den ein Anhänger des "Islamischen Staates" (IS) verantwortlich gemacht wird; dabei starben 31 junge Menschen, die als Helfer in die nordsyrische Stadt Kobane weiterreisen wollten. Dann durch Anschläge der PKK oder ihr nahestehenden Gruppierungen. Sie begannen einige Tage nach dem Attentat in Suruç, zwei Polizisten wurden im Schlaf mit Genickschüssen hingerichtet.
Wie viele Tote?

Seitdem vergeht kein Tag, an dem nicht türkische Polizisten oder Soldaten sterben. Aber auch Zivilisten werden verletzt oder getötet, durch die PKK im Osten des Landes bei Anschlägen, die "nur" den Sicherheitskräften gelten, als seien das keine Menschen, sondern nur wandelnde Uniformen; aber auch durch das Vorgehen des türkischen Militärs, etwa im nordirakischen Kandil-Gebirge, als ob sich dort nur das PKK-Hauptquartier befände und keine Zivilisten wohnten. Dort sollen im Dorf Zergelê bei Bombardements der türkischen Streitkräfte acht Menschen ums Leben gekommen sein. Die Regierung bestätigt dies nicht. Die halbstaatliche Anadolu Agentur meldet dagegen, dass 390 PKK-Kämpfer bei den türkischen Einsätzen getötet worden seien. Dies wiederum bestätigt die PKK nicht.

Dass die Türkei als Teil der Anti-IS-Koalition Stellungen der Terrormiliz in Syrien bombardiert hat, aber auch gleichzeitig den bislang effektivsten Partner der USA im Kampf gegen den IS, die PKK (ihr syrischer Ableger ist die PYD, aber salopp gesagt: das ist ein Laden), bekämpft, muss ich nicht noch mal betonen, oder?
Jeder hat seine eigene Chronologie

Vielleicht ist noch dieser Punkt erwähnenswert: Bis vor Kurzem hat der türkische Staat mit dem inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan über eine Lösung des seit mehr als 30 Jahren andauernden Konfliktes zwischen der Türkei und der als Terrororganisation gelisteten PKK verhandelt – also mit seinem Staatsfeind Nummer 1, dem Anführer der PKK. Die sie jetzt bombardiert. Der Staat sagt: Die PKK hat wieder zu den Waffen gegriffen, also hat sie die Verhandlungen beendet. Nicht weiter erwähnenswert ist, dass die PKK das anders sieht. Wie es eine Journalistin neulich ausdrückte: Bei dem Friedensprozess oder seiner derzeitigen Aussetzung hat jeder seine eigene Chronologie.

Auch innenpolitisch wird gekämpft: Nun rückt die AKP (die MHP sowieso) die prokurdische HDP, also ihre kleine Bezwingerin bei der Wahl, in die Nähe der PKK. Dass es da irgendeine Art von Nähe gibt, ist kein Geheimnis. Die HDP integriert die Kurdenbewegung (an der die PKK ihren Anteil hat) in die türkische Politik, sie zivilisiert und "entwaffnet" sie, quasi. Dabei macht sie natürlich auch Fehler, aber sie fordert, dass die Waffen ruhen sollen, auch die der PKK.

So ist etwa die Lage. Das Wort "Chaos" zu verwenden, ist wahrscheinlich derzeit nicht übertrieben. Doch anstatt dieses zu lösen, also politische Verantwortung zu übernehmen, will die AKP nun offenbar lieber noch einmal wählen lassen. Es wären die vierten Wahlen seit 2014.

Viel ist dieser Tage von dem "nationalen Willen" die Rede, besonders der Staatspräsident spricht oft davon. Dabei hat der Wähler doch gerade erst gesagt, was er will. So ist denn auch der Vorwurf der Opposition an Erdoğan: Er habe die Koalitionsgespräche platzen lassen, weil er kein Bündnis will, sondern, dass die AKP wieder allein regieren kann. Premierminister Davutoğlu, der mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, sagt, Erdoğan habe sich nicht eingemischt. Davutoğlu sagte aber auch, Wahlen seien "wie ein Impfstoff: Sie stellen die Gesundheit des Körpers wieder her". Ein weiterer Hinweis, dass der Urnengang für die AKP eher Mittel zum Zweck ist. Dass der Staat aus ihrer Sicht erst dann wieder gesund ist, wenn das Volk wie bisher die AKP allein an die Macht wählt. Der bekannte Istanbuler Politik-Professor Ersin Kalaycıoğlu spricht deshalb von einer "Wiederholung der Wahlen", nicht von "Neuwahlen".
Was, wenn sie wieder nicht AKP wählen?

Nur – die meisten Umfragen zeigen, dass eine Wiederholung der Wahl wahrscheinlich nichts für Erdoğans AKP ändern wird. Die Ergebnisse werden etwa gleich sein. Es gilt als nicht wahrscheinlich, dass die AKP die Stimmen der Kurden, die an die HDP gingen, in so kurzer Zeit in dieser Atmosphäre zurückgewinnen kann.

Hinzu kommt: Die Menschen sind wahlmüde. Sie sehnen sich nach Ruhe und Stabilität. Jeder, den sie als denjenigen ausmachen, der sie nun wieder an die Wahlurne zwingt und einem harten Wahlkmapf aussetzt, könnte viel verlieren. Die Wiederholung der Wahl ist ein Risiko für die AKP als starke Volkspartei.

Der Journalist Rușen Çakır twitterte es so: "Was passiert eigentlich, wenn die AKP nach wiederholter Wahl wieder nicht alleine regieren kann? Wird dann auch diese Wahl wiederholt?"

Aber – "burası Türkiye", hier ist die Türkei, wie die Leute sagen. Morgen kann schon wieder einiges anders sein. Und vielleicht ist ja doch der nationalistische Mr. Hayır eine Option.