n-tv.de, 15.08.2015 http://www.n-tv.de/politik/Die-Kurden-sind-selbstbewusster-denn-je-article15699336.html Neue Rolle im Nahost-Chaos Die Kurden sind selbstbewusster denn je Von Nora Schareika Jahrelang spielten die Kurden kaum eine Rolle im Nahen Osten, nun sind sie auf einmal Sündenbock (für die türkische Regierung) und Partner gegen den IS (für die USA) in einem. Wer sind "die Kurden" und wie sind sie organisiert? Ein Überblick. Sie gelten als das größte Volk ohne eigenen Staat, doch viele Jahre spielten sie in der Weltpolitik keine Rolle. Das hat sich geändert: Im Südosten der Türkei herrscht Krieg zwischen der Armee und der als Terrororganisation eingestuften Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) – ein zweieinhalbjähriger Friedensprozess gehört der Vergangenheit an. Gleichzeitig sind die syrischen Kurden zu einem wichtigen Partner auch des Westens im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) geworden. Das bringt Widersprüche mit sich, vor allem aber die Frage: Wer genau sind die Kurden, wie sind sie organisiert und was sind ihre Ziele? Der akute Auslöser für die Eskalation in der Türkei Mitte Juli mischte sich ein
Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS) unter die Mitglieder
einer marxistischen Jugendorganisation, die sich in der südtürkischen
Stadt Suruç getroffen hatten. Er sprengte sich in die Luft, 32 Menschen
starben. Viele Kurden sehen eine Mitschuld bei der Zentralregierung in
Ankara, weil die nicht genug gegen den IS unternommen habe. In der Folge
verübten PKK-Kämpfer Attentate gegen türkische Polizisten. Der Präsident
befahl daraufhin Luftangriffe gegen die PKK und den IS – konzentriert
sich aber vor allem auf Angriffe gegen die Kampfverbände der Kurden auf
türkischem, syrischem und irakischem Gebiet. Die Kurden in Syrien und im Irak haben ausgerechnet als Folge eines der schlimmsten Kriege der Gegenwart ein neues Selbstbewusstsein erlangt. Seit Syrien und der Irak in Bürgerkriegen zerfallen, der Islamische Staat ein Kalifat auf beider Länder Territorium errichtet hat, sind die Kurden zu einer international ernstgenommenen regionalen Größe herangewachsen. Das hat mit ihren militärischen Erfolgen gegen den IS zu tun, aber auch mit neuer innerkurdischer Zusammenarbeit und neu erwachtem Streben nach Eigenständigkeit. Dabei spielt vor allem der Fall der monatelang umkämpften Grenzstadt Kobane eine Rolle. Der Kampf der Kurden dort brachte ihnen weltweite Aufmerksamkeit. Das hat auch bei den türkischen Kurden neue Hoffnungen geweckt. Gleichzeitig schüren Ängste in Ankara vor genau dieser entstehenden Eigenständigkeit den Konflikt. Wer sind "die Kurden"? PKK, YPG, HDP, KRG – wenn es in den Nachrichten um "die Kurden" geht, wimmelt es nur so von Parteien, Milizen und anderen Gruppierungen. Es gibt sehr weit auseinandergehenden Schätzungen zufolge 25 bis 40 Millionen Kurden in der Türkei, in Syrien, Iran und im Irak. Das historische Siedlungsgebiet nennen sie Kurdistan. Zum Volk macht die Kurden ihre Geschichte und Identität, ihr gemeinsames Nationalbewusstsein, das zu einem Teil aber wohl auch ein "gefühltes" ist. Der Traum von einem Staat Kurdistan (im Osmanischen Reich gab es schon einmal die gleichnamige Provinz) lebt natürlich auch davon, dass er nie Wirklichkeit geworden ist. Die meisten Kurden sprechen
einen der drei kurdischen Dialekte, die dem Persischen ähneln. Es gibt
eine gemeinsame Kultur und Brauchtum, zudem eint die meisten Kurden ihre
Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam. Doch stärker als die Religion ist
die ethnisch-sprachliche Identität, weshalb auch die andersgläubigen Jesiden
sich zu den Kurden zählen. Die meisten Kurden leben in der Türkei. Dort werden die Kurden seit Jahrzehnten unterdrückt, seit mehr als 30 Jahren schwelt der bewaffnete Konflikt zwischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), bei dem rund 40.000 Menschen ums Leben kamen. PKK-Gründer Abdullah Öcalan sitzt seit 16 Jahren im Gefängnis. Als die PKK im vergangenen Jahr half, gegen den vorrückenden Islamischen Staat in der syrischen Grenzstadt Kobane zu kämpfen, forderten manche, die verbotene Arbeiterpartei müsse von der Liste der Terrororganisationen genommen werden. Dort steht die PKK bei der EU, den USA und in der Türkei. Am 28. Juli kündigte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Friedenprozess mit der PKK auf (siehe oben). Die 2012 gegründete Sammelpartei HDP (Demokratische Partei der Völker) ist auch eine Antwort auf den bisher ausgebliebenen Erfolg des PKK-Kampfes. Wie mächtig die Kurden in jüngster Zeit geworden sind, zeigt sich in der Türkei daran, mit welcher Entschlossenheit die Regierung in Ankara versucht, den neuen Einfluss der türkischen Kurden zu stören. Die HDP feierte bei den Parlamentswahlen Anfang Juni ihren historischen Sprung über die Zehnprozenthürde und damit den Einzug ins Parlament. Nun wird aber gegen die Parteivorsitzenden ermittelt, die dahinter ein Komplott vermuten. Denn die HDP hat die zuvor alleinregierende AKP um die absolute Mehrheit gebracht. Eine Koalition ist noch nicht zustande gekommen. Der Fortgang ist momentan ungewiss. Kurden in Syrien Die syrische Partei der Demokratischen Union (PYD) wurde 2003 als PKK-Schwester gegründet. Sie ist mit dem Kampf gegen den IS zur mächtigsten syrisch-kurdischen Partei herangewachsen. Seit dem Kampf um Kobane wird immer wieder gefordert, die Rolle der PYD neu zu bewerten und sie eben nicht nur als Schwester der PKK zu sehen. Die PYD ist nicht religiös ausgerichtet, immer wieder wird ihre progressive Frauenpolitik hervorgehoben. Ihr vorrangiges Ziel im Moment ist, die kurdischen Siedlungsgebiete im Norden Syriens zu verteidigen. Bis zu zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung Syriens sind Kurden. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind der bewaffnete Arm der PYD; die dazugehörige Frauenorganisation heißt PYJ. Die YPG pflegt enge Kontakte zum bewaffneten Arm der PKK. Auf syrischem Gebiet ist sie aber ein Verbündeter der Anti-IS-Allianz unter Führung der USA. Die geraten damit in einen Widerspruch, denn sie sind sowohl mit der Türkei als auch mit der YPG verbündet. Die PYD hat im Norden Syrien drei Kantone gegründet, die sie autonom verwaltet und verteidigt: Efrin, Kobane und Cizire. Das gesamte Gebiet nennen die dortigen Kurden Rojava (Westkurdistan). Im Januar 2014 wurde eine Art Gesellschaftsvertrag für Rojava erstellt, der Elemente des Schweizer Kantonsmodells enthält. Es gibt neben der PYD weitere syrisch-kurdische Parteien, die untereinander zerstritten sind. Der aktuelle Fokus auf die Verteidigung ihres Siedlungsgebietes gegen den IS und andere Milizen überdeckt dies. Auch die Erfolgsgeschichte von Kobane hat die Wogen etwas geglättet. Bei der vorläufigen Überwindung der innerkurdischen Streitereien in Syrien hat auch der Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Irak, Masoud Barzani, eine Rolle gespielt. Kurden im Irak Die irakischen Kurden haben vom Krieg der Amerikaner gegen das Regime von Saddam Hussein 2003 profitiert. Die Autonome Region Kurdistan galt bis zur Flüchtlingskrise infolge des IS-Vormarsches 2014 als Boomregion mit riesigem Potential – auch touristisch. Seit 2005 ist in der irakischen Verfassung der Status der Kurdischen Autonomiebehörde anerkannt. Irakisch-Kurdistan verfügt über eine eigene Regierung, ein Parlament, eine Verfassung, Streitkräfte, eine Flagge sowie eine Hymne. Zudem ist die Region Kurdistan wirtschaftlich autonom und hat der Zentralregierung in Bagdad das Recht erstritten, höhere Mengen an Erdöl zu verkaufen. Die Armee der irakischen Kurden sind die Peschmerga (wörtlich: "diejenigen, die dem Tod ins Auge sehen"). Zur syrischen YPG und zur türkischen PKK haben die Peschmerga ein angespanntes Verhältnis. Doch im Kampf um Kobane lieh der Nordirak sogar Peschmerga an die YPG aus. Die Türkei erlaubte ihnen die Durchreise über ihr Territorium. Ausgerechnet die Türkei – deren größte Angst ein Kurdenstaat ist – ist der größte Handelspartner der Kurdischen Regionalregierung (kurz: KRG für Kurdistan Regional Government). Diese Beziehung wiederum hat zu einem beträchtlichen Teil des Booms in Irakisch-Kurdistan beigetragen. Hierin steckt eine weitere Ironie: Die Entwicklung im Nordirak hat besondere Strahlkraft auf die türkischen Kurden. Präsident Masoud Barzani tritt
auch im Ausland wie ein Staatschef auf. Sogar der Türke Erdoğan empfing
Barzani 2012 als Staatsgast – damals noch im Amt des Ministerpräsidenten.
In die Streitigkeiten der syrischen Kurden griff der Iraker vermittelnd
ein und berief ein Treffen aller Gruppen im nordirakischen Dohuk ein.
Daraufhin gründeten die Anwesenden einen Rat aus 30 Mitgliedern, der nun
Rojava gemeinsam führt. 12 der Mitglieder gehören der PYD an, die restlichen
anderen syrisch-kurdischen Parteien. Klar ist, dass die neue Bedeutung der Kurden für neues Selbstbewusstsein gesorgt hat. Wahrscheinlich scheint momentan aber, dass die Kurden sich zunächst innerhalb der noch existierenden Staatsgrenzen von Syrien und Irak sowie der Türkei in ihren jeweiligen Organen organisieren. Experten warnen davor, dass ein vereinigter Kurdenstaat nicht funktionieren würde. Der Politikwissenschaftler Burak Çopur schreibt in einem Aufsatz, die Kurden seien heute ein "Vorbild und zugleich Bollwerk im Kampf gegen dschihadistische Gruppen". Die selbstverwalteten Gebiete trügen das Potential, zu einer Befriedung der Region beizutragen. "Diese historische Chance, sich als 'Friedensmacht' zu etablieren, sollte jedoch jetzt nicht dazu genutzt werden, ein unabhängiges Kurdistan zu fordern. Sinnvoller wäre es, so schreibt Çopur, wenn die Kurden im Irak, Syrien und der Türkei die Grenzen dieser Staaten Grenzen sein ließen und gleichzeitig ihre wirtschaftlichen Beziehungen ausbauten – um weitere (Teil-)Autonomie zu gewinnen.
|