Frankfurter Rundschau, 13.08.2015

Ein Alptraum, der nie vergeht

Emre Genc, 29, vor dem Büro der Sozialistischen Partei der Unterdrückten, deren Jugendorganisation den Hilfseinsatz in Kobane organisierte.

Von Frank Nordhausen

Der türkische Aktivist Emre Genc wollte mithelfen, die syrische Stadt Kobane wieder aufzubauen. Im Grenzort Suruc geriet er in einen Anschlag. Die Bilder lassen ihn nicht mehr los.

Die Stille, sagt Emre Genc. „Das Schrecklichste war die Stille“. Das Schweigen nach der Explosion. Die Bombe detonierte nur etwa fünf Meter von ihm entfernt. Emre Genc hörte einen gewaltigen Knall, spürte einen heißen Luftzug, bevor die Druckwelle sein linkes Ohr traf. Der 29-jährige schlanke Mann mit dem modischen Vollbart fasst sich wie träumend ans Ohrläppchen. Er spricht extrem leise. Das Trommelfell ist geplatzt, er weiß nicht, wie laut er reden muss, um gut verstanden zu werden. „Ich wusste nicht mehr, wo ich war“, sagt Emre Genc langsam. „Was mit mir los war. Was hier gerade passierte.“

Er fand sich am Boden wieder. Er hatte überlebt, weil viele Menschen vor ihm standen und ihre Körper ihn vor den Splittern schützten. Genc war absichtlich nicht nahe herangetreten, als seine Freunde eine Presseerklärung vorlasen, weil er die rund 300 jungen Menschen, viele von ihnen Studenten wie er selbst, im Garten des Kulturzentrums fotografieren wollte. Als er dann wieder aufstand, nahm er die Wunde in seiner Brust nicht wahr. Er sah Blut auf seinem Fuß, aber es stammte nicht von ihm. „Es war von einer blutüberströmten Frau, die auf mich einredete. Aber ich konnte sie nicht hören“, sagt er.

Montag, der 20. Juli, war ein heißer Sommertag in Suruc nahe der syrischen Grenze. Emre Genc wollte mit seiner Kamera dokumentieren, wie sich die Aktivisten darauf vorbereiteten, nach Kobane zu fahren, in die zehn Kilometer entfernte, komplett zerstörte Stadt in Syrien, die nach viermonatiger Belagerung durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Januar von kurdischen Kämpfern zurückerobert worden war. Die jungen Leute wollten helfen, sie wieder aufzubauen. Sie wollten teilnehmen am Neubeginn des Lebens.

Stattdessen traf sie der Tod, als der Selbstmordattentäter sich in die Menge drängte und gegen 11.30 Uhr seinen Sprengstoff zündete. 32 Menschen starben, fast hundert Menschen wurden teils schwer verletzt. Und Suruc wurde ein Ortsname, den die Türkei nie mehr vergessen, der sich ins kollektive Gedächtnis sengen wird wie das Massaker von Sivas 1993, als ein sunnitischer Mob 37 alevitische Künstler und Intellektuelle in einem Hotel verbrannte.

Emre Genc wird die Bilder aus Suruc ohnehin nicht mehr los, sie drängen sich immer wieder vor sein inneres Auge. Vielleicht war es gut, dass er die Schreie der Verletzten nicht hörte, als er wieder zu sich kam. Er sah sich um, begann zu begreifen und handelte. „Wir haben dann angefangen, die Verwundeten in Autos zu tragen, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Es kamen ja lange keine Ambulanzen.“

Seit dem Anschlag von Suruc sind drei Wochen vergangen. Emre Genc sitzt in einem engen Hof zwischen fünfstöckigen Zweckbauten in der Gazi Mahalle, einem Unterbezirk des nordwestlichen Stadtteils Sultangazi auf der europäischen Stadtseite von Istanbul. Ein Tisch ist aufgebaut, darauf Sesamgebäck und Tee. Junge Leute sind da, die Genc seine Genossen nennt. Sie gehören zur Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP), einer der vielen sozialistischen Kleinparteien der Türkei, die sich im vergangenen Jahr zur prokurdischen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) zusammengeschlossen haben, die es im Juni mit 13 Prozent der Stimmen ins Parlament schaffte. ESP-Chefin Figen Yüksedag ist zugleich Co-Vorsitzende der HDP.

Es war die sozialistische Jugendorganisation der ESP, die das Sommercamp in Kobane plante. Emre Genc hat die Sommerfahrt schon mehrfach mitgemacht. „Ich bin Türke und kein Kurde“, sagt er mit dem Anflug eines Lächelns, „aber ich wollte den Wiederaufbau von Kobane dokumentieren und meine Solidarität mit der Revolution in Rojava ausdrücken.“ Rojava – Westen, so nennen die Kurden ihre drei Kantone in Syrien, in denen eine Schwesterpartei der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK regiert.

Emre Genc ist ein politischer Mensch wie viele Leute in Gazi-Viertel. Der vor 50 Jahren entstandene Arbeiterbezirk mit seinen rund 100 000 Einwohnern gilt als Hochburg von Kurden, Aleviten und radikalen Linken. 1995 starben hier 23 Menschen bei tagelangen Gefechten mit der Polizei, Tausende wurden verletzt. Dutzende von sozialistischen Kleinparteien konkurrieren miteinander. Bei der Parlamentswahl holte die HDP hier 25 Prozent der Stimmen. So zerstritten sie politisch sind, gegen den Staat, den sie „faschistisch“ nennen, halten die linken Gruppen in Gazi zusammen. Wenn es in Istanbul brennt bei Protesten, wenn Barrikaden gegen die Polizei errichtet werden, dann oft in Gazi, so wie früher im Berliner Bezirk Kreuzberg. Nur mit dem Unterschied, dass es in Gazi auch immer wieder Tote gibt.

Es war nur normal, dass einige Aktivisten aus Gazi zum Sommercamp in Kobane aufbrachen. Emre Genc fuhr mit einem kurdischen Freund und mit Ismail Seker, einem Dönerverkäufer und Vater eines Freundes, der in Syrien im Kampf gegen den IS gefallen war. Sie wussten, dass ihre Reise gefährlich war. „Wir rechneten mit der Gefahr in Kobane, aber doch nicht in Suruc“, sagt Emre Genc. In der Kleinstadt kamen sie mit dem Auto am Morgen des 21. Juli an und mussten am Stadtrand eine Polizeisperre passieren. „Die Polizisten sagten ‚Willkommen in Suruc‘. Sie durchsuchten zwar unser Auto, aber nicht so hart, wie wir es gewohnt sind. Es war total seltsam.“

Vieles war seltsam an diesem Tag. Da versammelten sich fast 300 Kurden und radikale Linke in einer Stadt im Grenzgebiet, und auf der Hauptstraße, vor dem Amara-Kulturzentrum, waren keine Wasserwerfer, Schützenpanzer und Mannschaftswagen der Polizei aufgefahren. Undenkbar eigentlich. Auf dieser Straße stehen auch sonst immer Fahrzeuge der Sicherheitskräfte, schräg gegenüber liegt das Polizeihauptquartier.

„Die Leute aus der Stadt erzählten uns, dass normalerweise alle fünf Minuten eine gepanzerte Streife auf der Straße ist. Aber am Montag war kein Polizist zu sehen“, sagt Emre Genc. Er äußert einen Verdacht, den viele Überlebende teilen: „Ich glaube, dass die Polizei vorher von dem Anschlag wusste. Sie wollte sich selbst schützen und war deshalb nicht präsent.“

Natürlich, fügt der Student hinzu, hätten die Friedensaktivisten misstrauischer sein und sich Gedanken um die Sicherheit machen müssen. „Aber wir waren 300 Leute aus allen Teilen der Türkei, die sich vorher nicht kannten. Wir lernten uns kennen, fühlten uns wie eine große Familie, wir dachten nicht an eine Gefahr.“ Emre Genc machte seine Fotos und knipste auch weiter, als einige aus der Gruppe dazu aufriefen, sich zu versammeln, weil sie ein Papier über ihren Einsatz in Kobane vorlesen wollten. „Alle strömten im Garten unter den Bäumen zusammen“, sagt Emre Genc. Er hat später seine Fotos danach abgesucht, ob der Attentäter zufällig darauf zu sehen ist. Aber nichts. „Ich glaube, er kam ganz zum Schluss, als die Versammlung fast beendet war. Er hat sich in die Menge gedrängt und die Bombe gezündet. Er kann nicht lange vorher dagewesen sein.“

Länger als 20 Minuten dauerte es nach der Detonation, bis die Polizei eintraf. „Aber sie haben keine Menschen gerettet, sie haben Pfeffergas verschossen, mitten in die Verletzten!“ Emre Genc erlebte in Suruc einen Staat, wie er ihn aus dem Gazi-Viertel kennt: mitleidlos, brutal, gefangen im starren Freund-Feind-Denken. Emre Genc’ Geschichte handelt von den Gräben in der türkischen Gesellschaft, von ihrer Kälte und ihrem Hass. Von einer Staatsbürger-Definition, die Kurden noch immer nicht als gleichwertig anerkennt. „Die Polizei schützt uns nicht, sie attackiert uns. Die Polizisten in Suruc haben ihren Job gemacht. Genau das.“

Im kleinen Krankenhaus der Stadt, wo niemand auf die Verletzten eingestellt war, brach wenig später Panik aus. Genc erzählt von einer Lautsprecherwarnung vor einer weiteren Bombe. Also wurden viele Verwundete in Privathäuser geschafft. Später übernahm der Student die Aufgabe, zu protokollieren, welche Teilnehmer des Sommercamps fehlten, wer verletzt und wer tot war. Er war der Erfasser des Grauens. „Es gab auch welche, die in Panik weggelaufen sind. Die haben wir dann gesucht.“ Er zittert, als er davon erzählt.

Emre Genc muss an diesem Tag Unsagbares gesehen haben. Als er gegen fünf Uhr am Nachmittag wieder in den Garten des Kulturzentrums kam, sicherten die Ermittler inzwischen Beweismittel. „Einige Polizisten machten gerade Pause und aßen Fleisch – unter den Bäumen, in denen noch Stücke menschlichen Fleischs hingen.“ Genc schweigt eine Weile. Dann berichtet er, wie er gegen Mitternacht mit anderen Teilnehmern in die nahe Millionenstadt Sanliurfa kam und bei HDP-Mitgliedern untergebracht wurde. Er sagt, weder er selbst noch irgendeiner seiner Bekannten sei von der Polizei als Zeuge registriert, geschweige denn befragt worden. Bis heute nicht. Der junge Mann blieb eine Woche in Sanliurfa und hat deshalb nicht miterlebt, wie das Gazi-Viertel in den Tagen nach dem Massaker zum Kriegsgebiet wurde.

Zwar machte die Regierung der islamisch-konservativen AKP den IS für den Anschlag verantwortlich, weil der 20-jährige Selbstmordattentäter Sey Abdulrahman Alagöz ein aktenkundiges Mitglied der Terrorgruppe war und in Syrien gegen die Kurden gekämpft hatte. Doch gaben viele Oppositionelle der türkischen Regierung eine Mitschuld, weil sie die Extremisten an ihrer Grenze zu lange habe gewähren lassen und den polizeibekannten Dschihadisten nicht überwachte.

So wurde das Begräbnis von drei Suruc-Opfern, darunter Genc’ Freunde, zu einer Manifestation des Zorns. Zehntausende begleiteten sie auf ihrem letzten Weg. Die Bilder maskierter junger Männer mit Maschinenpistolen vor den Särgen gingen durch die Weltpresse. Umgekehrt beschoss die Polizei Trauerzüge mit Tränengas und Plastikmunition, wurden die Gräber einiger Toter geschändet.

Die Regierung ließ die Chance verstreichen, das Massaker zum Anlass zu nehmen, um die Gesellschaft gegen den Terror des IS zu einen und den Friedensprozess mit den Kurden zu stärken. Stattdessen befand sie die Opfer nicht einmal einer symbolischen Geste für wert. Es gab keine zentrale Trauerfeier, keine Fahnen auf Halbmast, keine Regierungsvertreter auf den Begräbnissen der Anschlagsopfer. „Es waren ja nur Kurden und Linke“, sagt ein junger Kurde, der mit am Tisch sitzt in Gazi. Er stellt es ganz sachlich fest.

Zwei Tage nach dem Anschlag wurden zwei Polizisten in der südostanatolischen Stadt Ceylanpinar an der syrischen Grenze nachts im Bett mit Schalldämpferpistolen erschossen. Die PKK bekannte sich dazu und lieferte der Regierung damit den Anlass, ihrerseits den seit 2013 bestehenden Waffenstillstand mit der Guerilla aufzukündigen und einen „Krieg gegen den Terror“ zu beginnen, der sich nur zum geringen Teil gegen den IS, vor allem aber gegen die PKK richtet. Auf die Bomben der Armee antwortete die Guerilla mit weiteren Attentaten auf Polizisten und Soldaten. Jeden Tag sind Tote zu beklagen. Die Türkei legte Suruc zu den Akten und verschanzte sich in den alten Schützengräben. Die Opfer des Anschlags kommen in den regierungsnahen Medien nicht mehr vor.

Die Gewaltspirale dreht sich weiter, auch in Gazi. Bei einer landesweiten Antiterroroperation nach den Polizistenmorden durchkämmten Spezialpolizisten das Viertel, durchsuchten Häuser und nahmen Verdächtige fest. Als ein Mitglied der DHKP-C im Wohnzimmer von Verwandten von 15 Kugeln durchsiebt wurde, obwohl sie unbewaffnet war, brannte Gazi drei Tage lang; auch ein Polizist wurde getötet.

Inzwischen hat sich das Tränengas verzogen, die verkohlten Mülltonnen sind abgeräumt, die Hauptstraße in Gazi wirkt wieder wie eine beliebige Geschäftsmeile in Anatolien. Nur die in den Seitenstraßen geparkten Wasserwerfer der Polizei erinnern daran, dass die Ruhe trügerisch ist. Am Samstag, dem Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes der PKK von 1984, erwarten die ESP-Aktivisten neue Razzien und Unruhen. Sie rechnen aber nicht nur mit der Gewalt des Staates, sondern auch mit weiteren Attacken des IS. Sie wissen, dass die Dschihadisten sich überall in Istanbul organisieren. Sie glauben, dass die Regierung und der Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Gewalt absichtlich anheizen, um in dem entstehenden Chaos eine Diktatur zu errichten.

Der Suruc-Überlebende Emre Genc sagt, die Vorgänge lasteten auf ihm wie ein Alptraum, der nie vergehe. Als die türkische Luftwaffe PKK-Stellungen im Nordirak bombardierte und dabei auch Zivilisten tötete, da habe er alles wieder vor Augen gehabt. „Die Toten. Das Blut. Die Stille.“

Genc wischt mit der Hand über seine Augen, als müsse er die Bilder verscheuchen. Er sagt, er habe die Freude am Leben verloren. Er wollte eigentlich in vier Monaten seinen Universitätsabschluss in Philosophie machen, aber er hat jetzt das Gefühl, dass nichts mehr einen Sinn ergibt. Er erinnert sich an eine verletzte Genossin, die in Suruc sagte: „Ich bin nicht okay, ich werde nicht okay sein, ihr alle werdet nicht okay sein.“ Auch er werde nie wieder okay sein, sagt Emre Genc. „Suruc wiederholt sich für mich immer wieder, und ich spüre, dass es immer so sein wird.“

Er konzentriert sich jetzt auf die Operation seines Ohrs. Der Staat, sagt er, tue absolut nichts für die Suruc-Opfer. Unabhängige Menschenrechts- und Hilfsorganisationen bezahlen seine Operation und auch den Krankenhausaufenthalt eines schwer verletzten Freundes. Emre Genc sagt, das einzige, auf das er zählen könne, sei die Solidarität seiner Genossen. Denn vom türkischen Staat sei für einen wie ihn nichts zu erwarten.
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