handelsblatt.com, 16.08.2015

http://www.handelsblatt.com/politik/international/tuerkei-es-gibt-kein-kurdenproblem-nur-eins-mit-der-pkk/12193714-2.html

„Wir wollen einfach nur Frieden“

„Es gibt kein Kurdenproblem. Nur eins mit der PKK“

Ozan Demircan

Die Kämpfe zwischen türkischer Regierung und linksradikaler PKK finden Befürworter und Gegner. Viele können mit der Politik von Präsident Erdogan gut leben, vielen macht er das Leben schwer. Ein Streifzug durch Istanbul.

IstanbulSchon den ganzen Tag steht Esra Aygün in der Sonne. Am Nachmittag ist es etwa 35 Grad heiß, das merkt auch die 24-jährige Studentin aus Istanbul. Sie hat sich ein Papier-Shirt übergezogen und hält ein Plakat aus Pappe in die Luft. Damit steht sie am Fähranleger im Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite der Stadt, wo stündlich hunderte Pendler mit der Fähre ankommen. Ab und zu muss sie es herunternehmen, weil es auf die Dauer zu schwer wird. Aber jedes Mal, wenn ein neues Boot anlegt, hält sie es wieder in die Luft. „Seid ihr euch dessen bewusst?“, beginnt der Text auf dem Plakat, „diejenigen, die den Krieg angezettelt haben, werden nicht sterben“.

Der Satz steht für viele Aktionen des Staatsapparats gegen seine eigenen Bürger. In den vergangenen Jahren hat der einstige Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, inzwischen Staatspräsident, einige kleine Kriege angezettelt. Er hat den Protest junger Leute gegen den Abriss des Istanbuler Gezi-Parks, mit Polizeigewalt beendet; fünf Menschen starben dabei. Er ließ Staatsanwälte versetzen, die wegen Korruptionsvorwürfen gegen Erdogan ermitteln wollten. Er klagte Journalisten an, die angeblich falsche Geschichten über ihn publiziert haben. Und seit Ende Juli greift das Militär im Auftrag Erdogans Stellungen der linksradikalen PKK an, mit der Erdogan vor zwei Jahren noch selbst eine Waffenruhe ausgehandelt hat. Am Wochenende gab es wieder Tote: Bei einer Schießerei und einem Anschlag kamen mehrere Menschen ums Leben. Ein Soldat und drei Kämpfer der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK starben am Sonntag nach Informationen aus Sicherheitskreisen bei einem Gefecht in einem ländlichen Gebiet in der Provinz Kars im Osten des Landes.

Der Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite ist vergleichbar mit Prenzlauer Berg in Berlin. Tatsächlich liegt der Stadtteil ebenfalls auf einem Hügel – vor allem aber hat es viele Künstler, Intellektuelle und junge Familien hier hingezogen. Es gibt viele Ausgehmöglichkeiten und die Menschen auf der Straße sind jung. Einer von ihnen ist Oguzcan Ünver. Der 29-Jährige hat eine App entwickelt, mit der Forschungsabteilungen großer Konzerne ihre Projekte besser mit den Mitarbeitern koordinieren können. Weil sein Büro zu klein ist, trifft er sich mit Geschäftspartnern lieber im Starbucks um die Ecke. „Solange die Innenpolitik tagtäglich wechselt, halten sich die Unternehmen mit ihrer Budgetplanung zurück, als erstes bei komplizierten und teuren Projekten, wie wir sie anbieten“, ärgert sich Ünver. Er ist sich sicher, dass die Gesellschaft allgemein liberaler werde. „Nächstes Jahr werden die Kämpfe vorbei sein, und dann wird auch die Stimmung besser.“

Nicht alle sehen das so. Özgür Altug, Chefökonom beim Analysehaus BGC Partners, hat sein Büro im Stadtteil Levent auf der europäischen Seite. Im Geschäftszentrum der Stadt wachsen regelmäßig neue Wolkenkratzer in die Höhe. Altug sieht im Scheitern der Gespräche für eine Große Koalition eine große Enttäuschung. „Kommt es tatsächlich zu Neuwahlen, wird die politische Unsicherheit noch weitere sechs Monate anhalten. Das würde an den türkischen Märkten eine ernsthafte Korrektur auslösen, die mit Sicherheit länger als einen Monat andauern wird.“

Um von Levent in die Altstadt zu gelangen, musste man früher mit der langsamen Straßenbahn fahren oder ein Taxi nehmen – was im Feierabendverkehr unter Umständen noch länger gedauert hat. Heute gibt es eine neue U-Bahn. Bis 2017 soll das Streckennetz auf über 750 Kilometer anwachsen; ein Projekt, dass Staatspräsident Erdogan noch während seiner Zeit als Bürgermeister Istanbuls begonnen hat.

Mustafa ist Kellner in einem von hunderten Restaurants zwischen Hagia-Sophia-Moschee und dem großen „Überdachten Basar“. Er spricht die Touristen vor seinem Restaurant in der Sprache an, die er bei ihnen als Muttersprache vermutet. Nur wenn es um das Thema PKK-Angriffe geht, wechselt er schnell ins Türkische. „Das sind Terroristen, die müssen weg“, ereifert er sich. Sein Kollege Arif sei selber Kurde, „aber PKK ist nicht gleich Kurden“, stellt Mustafa klar. Bei der PKK handle es sich um einen sehr kleinen Teil der kurdischen Gemeinschaft. „Der große Rest sind unsere Nachbarn, Freunde, Kollegen. Es gibt kein Kurdenproblem in unserem Land. Nur ein Problem mit der PKK.“ Er hält Erdogan für einen guten Präsidenten.

Die Gruppe ist Ende der 1970er Jahre gegründet worden und verlangt seitdem einen eigenen Kurdenstaat auf dem Gebiet der Türkei und dem Irak. Jahrzehntelang verbreitete die Gruppe um ihren Anführer Abdullah Öcalan in der Türkei Angst und Schrecken, durch gezielte Angriffe auf Militärkasernen, aber auch durch Anschläge und Selbstmordattentate in den Innenstädten. Im Jahr 2013 handelte der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine Waffenruhe mit dem inzwischen inhaftierten Öcalan aus; im Juli dieses Jahres wurde diese aufgekündigt.

Zurück auf der asiatischen Seite. Etwas nördlich von Kadiköy, im Stadtteil Üsküdar, schlägt das Gründerherz der Stadt in einem klimatisierten Büro über einer Bankfiliale. Burak Büyükdemir sitzt an einem Konferenztisch und schreibt Einladungen. Auf seinem T-Shirt ist ein Moorhuhn abgebildet, darunter steht „Startup Istanbul“. Büyükdemir ist Organisator der gleichnamigen Konferenz, und er will auch im siebten Jahr, dass sie ein Erfolg wird. Das Besondere an dem Treffen, das jährlich im Oktober stattfindet: Es kommen Teilnehmer aus Ländern wie Pakistan, Kosovo, Libyen, Nigeria und sogar Afghanistan. „Die Wirtschaft, gerade die junge Wirtschaft, kennt keine Grenzen. Wir brauchen eine Regierung, die ebenfalls keine Grenzen kennt. Unter Erdogan ist das nicht so.“ Er glaubt, dass Startups gerade in Krisenländern eine Vorreiterrolle einnehmen können. Viele junge IT-, Energie- oder Mobilfunk-Startups hätten in Schwellenländern ganze Märkte umgekrempelt. „Es ist nur eine Frage, bis Startups auch die Politik vor sich hertreiben“, ist sich Büyükdemir sicher.

Der Studentin Esra reicht das nicht. Im Nachbarstadtteil Kadiköy macht sie weiter Menschen auf den „Friedensblock“ aufmerksam. Die Bewegung will 100.000 Unterschriften sammeln, um der Gewalt ein Ende zu bereiten. „Wer regiert, ist uns egal“, erklärt Aygün, „wir wollen einfach nur Frieden“.