Telepolis, 16.08.2015

"Sie wollen unsere Unabhängigkeit verhindern"

Fabian Köhler 16.08.2015

Besuch im Flüchtlingslager bei Suruc, ein paar Kilometer von Kobane entfernt

Würde Opa Ibrahim seinen beiden Enkeln vom Krieg erzählen, sie wären schnell gelangweilt. Nicht, weil er zu in Erinnerungen schwelgt, dafür ist es mit 45 Grad ohnehin zu heiß. Die beiden kennen die Geschichten, weil sie selbst dabei waren. Vor acht Monaten, als sie vor dem Islamischen Staat aus Kobane in die Türkei flüchteten. Vor drei Wochen, als ein Attentäter 20 Gehminuten entfernt 33 Menschen in den Tod riss. Vor zwei Tagen, als am Himmel die türkischen Kampfjets donnerten.
Bild: Fabian Köhler

"Wir werden sie zerquetschen", sagt Ibrahim und versucht sich an einer kraftvollen Geste, um dann doch wieder zurück auf die Matratze zu sinken. Mit ihm döst eine Hand voll weiterer alter Männer unter einem Baum, der sein Versprechen auf Schatten kaum einlöst. Kaum zehn Kilometer entfernt von dem Ort, der einmal Kobane war, sitzt er, der einmal Arzt war, als einer von tausenden syrischen Flüchtlingen, die der Krieg auch diesseits der türkischen Grenze nicht in Frieden lässt.

"Sie wollen unsere Unabhängigkeit verhindern", sagt Abu Ziyad. Er ist der Lagerälteste und damit so etwas wie der Bürgermeister in der kleinen Containersiedlung am Rande der türkischen Stadt Suruc. Mit "sie" meint er die türkische Regierung. Dass diese hinter dem Anschlag steckt, bei dem ein IS-Attentäter am 20. Juli 32 linken türkischen Aktivisten und sich selbst das Leben nahm, die Angriffe der türkischen Luftwaffe vor allem den Kurden und nicht dem IS gelten, gilt auch außerhalb des Lagers als Common Sense.
Im Lager bei Suruc. Bild: F. Köhler

Kaum 300 Kilometer von Suruc entfernt liegt der Luftwaffenstützpunkt, von dem aus türkische Kampfjets jede Nacht in Richtung Syrien und Irak aufs Neue beweisen, dass vom Friedensprozess zwischen PKK und türkischer Regierung nichts mehr übrig ist. An der Grenze soll das Militär 18.000 Soldaten zusammengezogen haben. Fast 300 Kurden sind in den vergangen drei Wochen bei den Angriffen getötet worden. Türkische Behörden berichten von 40 Soldaten, die bei Angriffen der PKK ums Leben kamen.

"Über 1000 von uns haben sie in den letzten Tagen verhaftet", sagt Mustafa. Er ist ein weiteres Mitglied der Altherrenrunde im kleinen Schatten der Containersiedlung und arbeitet für den örtlichen Ableger der kurdischen Partei DPB. "Sie sagen IS und meinen uns", sagt er und stützt sich von seiner Matratze auf: "Ich zeige dir, wer gegen den IS kämpft." Das Foto zeigt eine junge YPG-Kämpferin. Es ist seine verstorbene Nichte. "Boom", sagt Mustafa und zeichnet den Umriss eines großen Balls in die Luft. "Sieht die etwa aus wie eine türkische Soldatin?"

300 Menschen leben in dem Containerlager. Jeder hat Verwandte im Kampf gegen den IS verloren. Wirklich jeder. In fast allen der rund 50 Grad heißen Container hängen die Bekenntnisse zum kurdischen Freiheitskampf: PKK-Fahnen, Fotos von Öcalan, Wimpel in kurdischen Farben. Fotos getöteter Schwestern, Töchter, Ehemänner, Brüder. Fünf Geschwister sind es im Fall der 12-jährigen Peruz und ihrer 10-jährigen Schwester Jandar.
Peruz und ihre 10-jährige Schwester Jandar. Bild: F. Köhler

"Wir sind alle Kurden, egal, auf welcher Seite der Grenze wir leben", ist eine Antwort, die man auch außerhalb des Flüchtlingslagers so häufig bekommt, dass sie sich niemand Bestimmtem zuordnen lässt. Egal, ob sie ihre politische Vorliebe zu einer Variation des kurdischen Unabhängigkeitskampfes nun mit HDP, DPB, PYD, YPD oder PKK abkürzen. Von Kritik an den Angriffen der PKK, gar von einer Spaltung der Kurden ist hier nichts zu spüren. Die türkische Regierung beschwört sie dennoch.

"Diese Operation ist eine gegen den Terror", sagte der türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoğlu am Freitag und versicherte, dass nicht Kurden, sondern ausschließlich die PKK Ziel der Angriffe seien: "Genauso wie sich unsere Operationen in Syrien gegen den IS nicht gegen Araber richten, richten sich unsere Operationen im Irak gegen die PKK, nicht gegen Kurden." Davutoğlus Versprechen, seinen "kurdischen Brüdern" gegen den Terror beizustehen, erntet im Lager bestenfalls Spott.

"Sie hassen uns einfach"

Soll ich dir mal einen Witz erzählen, fragt Mustafa. "Sagt Erdogan, wir kämpfen gegen den IS." Pause. "Das war der Witz." Vor dem Zaun des Lagers zieht am Nachmittag eine kleine Menschenmenge vorbei. Es ist eine Mischung aus Demonstration und Trauermarsch. Täglich bringt der Krieg aus Syrien die Nachricht von neuen toten Verwandten über die Grenze. Erst am Tag zuvor haben türkische Behörden die Überstellung toter YPG-Kämpfer verhindert. Mal wieder.
Gedenkstätte. Bild: F. Köhler

Ob es diesmal der "Anti-Terror-Krieg" der Türkei oder der IS-Terror war, der die neuen Märtyrer produzierte, kann keiner der Altherrenrunde beantworten. "Spielt das eine Rolle?", fragt Mustafa rhetorisch. Die Frage nach dem Warum beantwortet er so: "Sie hassen uns einfach. Im November sind Neuwahlen. Kann Erdogan seinen Leuten weiter weismachen, dass wir die Terroristen sind, wird er vielleicht doch noch Sultan", sagt Abu Ziyad und erntet das lauteste Lachen des Tages.

"Sie haben einen großen Fehler begangen, indem sie uns angegriffen haben, und werden dafür einen hohen Preis zahlen", kündigte PKK-Kommandeur Murat Karayılan am Samstag gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur Firat die Voraussetzung des Kampfes an. Auch er meint die türkische Regierung.
Die unbekümmert Fußball spielenden Kinder. Bild: F. Köhler

Wohin das Ganze führen wird, ob es irgendwann einmal ein demokratisches Kurdistan geben wird? "Ich weiß es nicht!", sagt Opa Ibrahim. Es sei jetzt "einfach zu heiß. Außerdem bin ich dafür zu alt, die müssen sich darum kümmern", sagt er, legt sich auf seine Matratze zurück und zeigt in Richtung des Schotterplatzes. Mitten in der prallen Sonne rennen dort seine Enkel und ein Dutzend weiterer Kinder lachend einem pinken Fußball hinterher. So, als würden sie den Krieg nur aus Opas Erzählungen kennen.

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