junge Welt, 17.08.2015

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Brüchige Waffenbrüderschaft

Bundeswehr zieht Patriot-Raketen aus Türkei ab. AKP lässt Koalitionsgespräche scheitern. Nun erscheinen in Ankara Neuwahlen unausweichlich

Von Nick Brauns

Die Bundeswehr beendet ihren Einsatz in der Südosttürkei. In den kommenden Monaten sollen die bei der Stadt Kahramanmaras stationierten 250 deutschen Soldaten mit ihren »Patriot«-Luftabwehrraketensystemen abgezogen werden, erklärte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Samstag. Die im Rahmen der NATO-Mission »Active Fence« vor zweieinhalb Jahren auf türkischen Wunsch beschlossene Raketenstationierung hatte für Ankara vor allem politische Symbolkraft. Die Gefahr von Angriffen syrischer Regierungstruppen auf die Türkei sei nicht mehr gegeben, hieß es aus dem Verteidigungsministerium. »Die Bedrohung in dieser krisengeschüttelten Region hat jetzt einen anderen Fokus erhalten«, erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). »Sie geht heute von der Terrororganisation ›Islamischer Staat‹ aus.«

Diese Begründung erscheint vorgeschoben. Denn während bislang die Gefahr eines syrischen Angriffs nicht bestand, könnte die syrische Armee gerade jetzt mit legitimer Selbstverteidigung auf die von der türkischen und der US-Regierung beschlossene völkerrechtswidrige Schaffung einer Flugverbotszone als Aufmarschgebiet von Söldnertruppen im Norden Syriens reagieren. Doch offensichtlich will die Bundesregierung nicht in ein solch unübersichtliches Kriegsszenario verwickelt werden, das auch in Nordsyrien kämpfende kurdische Milizen und mögliche Vergeltungsaktionen des »Islamischen Staates« (IS) auf die vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik aus geflogenen US-Luftangriffe einschließt. Zudem ist die Bundesregierung seit langem über die Unterstützung ihres türkischen NATO-Partners für »islamistische Terrorgruppen« bestens im Bilde, wie das ARD-Magazin »Monitor« vergangene Woche anhand von Geheimpapieren nachwies.

Zu der Entscheidung für den »Patriot«-Abzug beigetragen hat wohl auch die innenpolitische Entwicklung in der Türkei. Vergangene Woche scheiterten die Gespräche zwischen der bislang alleinregierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der säkularen Republikanischen Volkspartei (CHP) zur Bildung einer großen Koalition nicht nur an Differenzen in der Syrien-Politik, sondern auch an der beharrlichen Weigerung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, überhaupt eine Koalitionsregierung zu dulden. Während die Bürgerkriegsgefahr durch Angriffe der Armee auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bewaffnete Vergeltungsaktionen der Guerilla wächst, setzt Erdogan auf schnelle Neuwahlen. Die damit verbundene Hoffnung, in einer Atmosphäre der Spannungen eine erneute AKP-Alleinregierung bilden zu können, erscheint nur realistisch, wenn entweder die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) oder die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter die Zehnprozenthürde gedrängt wird. Diese Absicht verbindet die AKP-Administration mit ihrem Kriegskurs.

Sollte bis zum 23. August keine neue Regierung gefunden worden sein, muss eine Allparteienübergangsregierung zur Vorbereitung von Neuwahlen gebildet werden. Um eine solche Übergangsregierung unter Einschluss der HDP zu verhindern, versucht die AKP nun, die MHP zur Tolerierung einer Minderheitsregierung für die Dauer der Neuwahlvorbereitung zu bewegen. Erdogan verkündete unterdessen, das von ihm gewünschte Präsidialsystem sei faktisch bereits Realität geworden. Jetzt müsse nur noch der rechtliche Rahmen an diese neue Regierungsform angepasst werden, forderte der Präsident am Freitag in einer Rede in seiner Heimatstadt Rize.