zeit.de, 18.08.2015

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Warum schweigt Öcalan?

Türkischer Staat und kurdische Kämpfer bekriegen sich, PKK-Führer Öcalan aber schweigt. Verhindert die Regierung ein Eingreifen ihres einstigen Verhandlungspartners? von Çiğdem Akyol, Istanbul

Mehmet Öcalan würde gerne wieder mal seinen Bruder sehen. Seit zehn Monaten haben sich die beiden nicht mehr getroffen, und viel ist geschehen in diesen zehn Monaten. Doch weil sein Bruder der Staatsfeind Nummer eins ist, müssen Besuche sehr genau geplant werden. Vor wenigen Tagen, so zitierten türkische Medien Mehmet Öcalan, sei er schon auf dem Weg zu der Überfahrt auf die Marmarainsel İmralı gewesen, auf der sein Bruder Abdullah Öcalan seit 1999 in einem Gefängnis einsitzt. Der Besuch sei dann in letzter Minute abgesagt worden. Warum? "Das müssen sie den Staat fragen", antwortete er.

Das fragen sich viele in diesen Tagen in der Türkei: Warum sagt der inhaftierte, aber unbestrittene Anführer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK nichts, warum ist Öcalan unsichtbar? Gerade jetzt, da der Friedensprozess zwischen türkischem Staat und kurdischen Kämpfern längst einem tödlichen Kampf gewichen ist, mit Dutzenden Toten auf beiden Seiten. Öcalans Wort könnte diese Eskalation entscheidend beeinflussen, ein ganzes Land wartet darauf. Doch er schweigt. Warum?

Eine Seite sagt: Weil der Staat das nicht will, weil Ankara sein Wort fürchtet. Seit April verweigert die Regierung Politikern der prokurdischen Partei HDP, Öcalans Angehörigen und seinen Anwälten, ihn auf İmralı zu sprechen. Zwar berichtete vor rund zehn Tagen der Nachrichtensender CNN-Türk, dass eine Regierungsdelegation den PKK-Chef besucht habe. Doch außer der Nachricht, dass man dabei über den ausgesetzten Friedensprozess und die öffentliche Sicherheit gesprochen habe, wurden keine weiteren Details genannt.

Eine miese Taktik der Regierung, um die Unruhen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK aufrechtzuerhalten, kritisiert die Menschenrechtsaktivistin Meral Çıldır in ihrem Istanbuler Büro wenige Minuten vom zentralen Taksim-Platz in Istanbul entfernt. "Öcalan will den Friedensprozess weiterführen", sagt die stellvertretende Vorsitzende des IHD, dem angesehensten Menschenrechtsverband in der Türkei, der sich vor allem für Kurden einsetzt. "Doch die Regierung kann angesichts der wahrscheinlichen Neuwahlen keine mäßigende Stimme im Moment gebrauchen", so Çıldır.

Das ist eine weit verbreitete Lesart unter Gegnern der Regierung: Diese schüre die Eskalation und arbeite gleichzeitig auf Neuwahlen hin, um dann die Stimmen jener für sich zu gewinnen, die in Krisenzeiten lieber einen starken Staat wollen und eine starke AKP-Regierung. Deshalb müsse Öcalan schweigen, damit der Konflikt bloß nicht aufhört. So gesehen wäre das Chaos im Land nur ein perfides, indirektes Wahlkampfinstrument.

Çıldır fordert gar, man solle Öcalan freilassen, um den Friedensprozess zu retten. Der Staat könne ihn ja, ähnlich wie einst beim südafrikanischen Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, unter Hausarrest stellen. Dann könne Öcalan seine Gedanken freier entfalten, um mit Ankara zu verhandeln. Denn das ist ja das widersprüchliche an der aktuellen Situation: Die türkische Regierung hatte in den vergangenen Monaten und Jahren selbst mit dem PKK-Anführer gesprochen. Gemeinsam haben sie versucht, den jahrzentelangen, tödlichen Konflikt zu entschärfen, wenn nicht gar zu beenden. Es ging um mehr Rechte für Kurden auf der einen Seite und um ein Ende des bewaffneten Kampfes der PKK auf der anderen.
"Als Erstes hat die Regierung Bomben geworfen"

Für die Menschenrechtlerin Çıldır aber ist die PKK keine Terrororganisation, wie sie von der EU, den USA und der Türkei eingestuft wird, sondern eine Widerstandsgruppe. Dass die PKK, die seit den Angriffen der türkischen Armee auf ihre Lager nun fast täglich Anschläge auf das Militär und die Polizei verübt, sei die Schuld Ankaras. "Als Erstes hat die Regierung Bomben abgeworfen", sagte sie. Die PKK habe dann dummerweise mit Gegengewalt geantwortet.

Eine Meinung, bei der Oral Çalışlar zornig wird. Der Journalist, der seit Jahrzehnten über den türkisch-kurdischen Konflikt schreibt, sitzt in seinem Garten auf einer der Inseln vor Istanbul. "Warum sollte die Regierung keinen Frieden wollen?", entgegnet er auf die Chaostheorie, dass Ankara die PKK angreife, um dies innenpolitisch für Neuwahlen zu instrumentalisieren. "Hat die Türkei die PKK dazu aufgefordert, die Soldaten umzubringen?", erwidert er.

Hören die Kandil-Kämpfer noch auf Öcalan?

Für Çalışlar, der wegen seines politischen Engagements in den siebziger und achtziger Jahren insgesamt fünf Jahre im Gefängnis saß und einst für die kemalistisch-nationalistische Tageszeitung Cumhuriyet schrieb, ist der Verursacher des Konflikts klar: die kurdischen Rebellen, die nicht aufhören würden, weiterhin zu morden. Auf das Argument von Çıldır, dass die türkische Luftwaffe als Erstes mit der Bombardierung begonnen hätte, antwortet er: "Angenommen, dem ist so, warum hört die PKK dann nicht auf, jeden Tag türkische Sicherheitskräfte anzugreifen?" Wer die "Chaostheorie" unterstütze, so findet er, sei ein PKK-Sympathisant.

Doch auch er fordert ein Ende der Isolation Öcalans. Dieser sei der einzige, der die PKK zur Waffenruhe auffordern könne, und der anders als die meisten PKK-Angehörigen den Friedensprozess gemeinsam mit Ankara wolle. Warum von Öcalan momentan nichts zu hören sei? Da kann der Journalist nur mutmaßen: Es sei nicht ganz klar, ob Öcalans Wort auch im irakischen Kandil-Gebirge, wo sich die PKK-Rebellen zurückgezogen haben, Autorität hätten. "Wenn Öcalan jetzt die PKK zur Niederlegung der Waffen auffordern sollte, und diese dem nicht folgen, dann wäre einer der wichtigsten Gesprächspartner der AKP-Regierung wirkungslos", glaubt Çalışlar.

Die AKP-Regierung ist nicht die erste, die direkt mit der PKK verhandelte. Turgut Özal war der erste Präsident, der die Kurden als eigenständiges Volk auf türkischem Boden anerkannte. Özal, selbst Kurde, trat 1992 mithilfe des damaligen irakischen Kurdenführers Dschalal Talabani, der von 2005 bis 2014 irakischer Staatspräsident war, mit Öcalan in Kontakt. Dieser kündigte aus dem syrischen Exil 1993 einen Waffenstillstand an. Doch Özal starb im April 1993 ganz plötzlich, und alle darauffolgenden Regierungen wollten die Kurdenfrage nur noch militärisch lösen. Während der Politik der "verbrannten Erde" wurden rund 4.000 kurdische Dörfer im Südosten der Türkei zerstört. Bis heute kamen 40.000 Menschen in diesem Konflikt ums Leben, doch die 1978 in der Türkei von Öcalan mitbegründete PKK konnte bis heute nicht zerschlagen werden.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan durchbrach dann die totale Isolation Öcalans. Als im September 2011 Verhandlungen zwischen PKK-Emissären und dem türkischen Geheimdienst MIT im norwegischen Oslo publik wurden, ließ Erdoğan die Gespräche jedoch erst mal abbrechen. Im Januar 2013 folgte dann die Sensation, Ankara sprach ganz offiziell direkt mit dem Staatsfeind Nummer eins.

Öcalan als "Stimme des Friedens"

Kurz darauf durften die Kurden zum ersten Mal seit Gründung der Republik 1923 ihr Neujahrsfest Newroz feiern. Bei den Feierlichkeiten in Diyarbakır wurde aus einem Grußwort Öcalans vorgelesen: "Vor Millionen Zeugen sage ich: Endlich beginnt eine neue Ära, in der statt Waffen die Politik im Vordergrund steht!" Das Time Magazin zählte ihn daraufhin zu den 100 wichtigsten Persönlichkeiten des Jahres, und nannte Öcalan eine "Stimme des Friedens". Und obwohl Ankara im Herbst letzten Jahres dem Überfall des "Islamischen Staates" auf kurdische Kämpfer im norsyrischen Kobane tatenlos zusah, und es daraufhin zu tödlichen Ausschreitungen zwischen Kurden und türkischen Sicherheitskräften in der Türkei kam, wurde der brüchige Friedensprozess weitergeführt.

Am 28. Februar dieses Jahres präsentierten der Regierungsvize Yalçın Akdoğan und der HDP-Politiker Sırrı Sureyya Önder die sogenannte Erklärung von Dolmabahçe. In dem Plan diktierte Öcalan zehn Punkte als Grundlage für weitere Verhandlungen und forderte die PKK auf, sich zu entwaffnen. Aus Regierungskreisen hieß es damals, ein erfolgreicher Abschluss des Friedensprozesses stehe unmittelbar bevor.

All das steht jetzt auf dem Spiel. Mit jedem getöteten türkischen Soldaten, mit jedem getöteten PKK-Kämpfer. Und mit jedem Tag, an dem Abdullah Öcalan, die Schlüsselfigur im türkisch-kurdischen Spannungsverhältnis, nichts sagt. Die Türkei ist wieder in einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt.

Wissenschaftler forderten kürzlich in einem offenen Briefen von der AKP, keine diskriminierende Sprache mehr zu verwenden, die den Konflikt zusätzlich anheize. In dem Schreiben mit der Überschrift "Eine Nachricht an die Menschen in der Türkei" warnen die Unterzeichner, den Friedensprozess nicht für eine innenpolitische Abrechnung zu instrumentalisieren. Sie appellieren an die Regierung, wieder mit Öcalan zu sprechen. "Wir sind der Auffassung, dass die Türkei endlich eine Chance hat, sich mit ihren Wahrheiten zu konfrontieren, sich zu demokratisieren und ihre Wunden zu heilen", so die Unterzeichner.