welt.de, 18.08.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article145342795/Herr-Erdogan-schafft-sich-ein-Praesidialsystem.html Herr Erdogan schafft sich ein Präsidialsystem Nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche mit der nationalistischen MHP gibt Ministerpräsident Ahmet Davutoglu den Regierungsauftrag zurück. Wie geht es jetzt in der Türkei weiter? Von Deniz Yücel Der Mann heißt mit Vornamen "Staat" und mit Nachnamen "Mit Garten". Doch allzu staatsmännisch gab sich Devlet Bahceli, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), am Montag bei seinem Treffen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht. Schon nach zweieinhalb Stunden war klar, dass ihr erstes Koalitionsgespräch auch das letzte bleiben würde. Die MHP hatte folgende vier Punkte als Voraussetzung einer Koalition formuliert: Rückzug des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) auf seine in der Verfassung vorgeschriebenen Kompetenzen, Wiederaufnahme der Korruptionsermittlungen gegen ehemalige AKP-Minister, endgültiges Ende des Friedensprozesses mit der PKK, Unantastbarkeit der ersten vier Verfassungsartikel, in denen unter anderem die Türkei als zentralistischer Nationalstaat definiert wird. Diese Bedingungen habe der Ministerpräsident abgelehnt, ließ Bahceli am Abend wissen. Erwartungsgemäß, hätte er noch hinzufügen können. Denn dass sich Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) darauf nicht einlassen würde, war klar. Bahceli wollte also keine Koalition mit der AKP. Aber auch auf alle anderen Optionen lautete sein Antwort Nein: Nein zur Unterstützung einer AKP-Minderheitsregierung, genauso wie zu einer Interimsregierung; Nein zur Beteiligung an einer Allparteien-Regierung, die das Land in eine Neuwahl führen könnte; Nein zu einer Neuwahl. Davutoglu gibt Regierungsauftrag zurück Anders als noch in den ersten Tagen nach der Parlamentswahl Anfang Juni lehnt Bahceli eine Wiederholung derselben ab. Offenbar ist es inzwischen auch bis zu ihm durchgedrungen, dass seine Partei in diesem Fall kaum ihr Ergebnis von 16,3 Prozent der Stimmen wiederholen könnte, weil das Wiederaufflammen des Krieges mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) weniger der MHP als der AKP nutzt (Link: http://www.welt.de/144746825) . Bahceli hätte darum gerne eine Koalition zwischen der AKP und der Republikanischen Volkspartei (CHP). Doch diese Verhandlungen sind bereits in der vergangenen Woche gescheitert (Link: http://www.welt.de/145205975) . Da die dritte theoretisch mögliche Option, nämlich ein Bündnis zwischen der AKP und der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP), von beiden Seiten ausgeschlossen wird, hat Davutoglu nun erklärt, den Auftrag zur Regierungsbildung zurückzugeben. Dafür will er am Dienstagabend Staatspräsident Erdogan aufsuchen. Offen ist, ob der den CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Nach der Parlamentswahl hatte Erdogan mit allerlei Verfahrenstricks (Link: http://www.welt.de/143753507) einen ganzen Monat verstreichen lassen, ehe er offiziell den Regierungsauftrag vergab. Seither läuft die Frist von 45 Tagen, die das Parlament zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten hat. Und theoretisch hätte Kilicdaroglu nur noch bis Sonntag Zeit, um innerhalb dieser Frist zu bleiben. Doch die einzige Möglichkeit, ohne die AKP eine Regierung zu bilden, würde eine Zusammenarbeit der drei Oppositionsparteien erfordern – ob in Gestalt einer Dreierkoalition oder in Form einer Minderheitsregierung, für die verschiedene Modelle denkbar wären. Allerdings hat Bahceli gleich nach der Wahl, noch vor der erneuten Eskalation des Konflikts mit der PKK, erklärt, dass für ihn die HDP nicht existiere (Link: http://www.welt.de/143652265) . Kurz: Die Türkei wird also wieder wählen, selbst ein konkreter Termin ist bereits im Gespräch: der 23. November. Zwar müsste Erdogan nicht zwingend nach Ablauf der 45 Tage eine Neuwahl ansetzen, aber er hat bereits deutlich gemacht, dass er nicht daran denkt, die Frist zu verlängern. Offen ist lediglich, ob die AKP bis dahin mit der Minderheitsregierung weiterregiert oder ob der Präsident eine Allparteien-Regierung einsetzt, dann vermutlich ohne Gartenstaat und seine MHP. Für den Präsidenten scheinen diese Fragen ohnehin nicht mehr so wichtig. "Das politische System hat sich faktisch ohnehin geändert, jetzt muss die Verfassung angepasst werden", erklärte Erdogan am Wochenende. Immerhin sei er als Staatspräsident des Landes vom Volk direkt gewählt worden, argumentierte er. Die Direktwahl des Präsidenten wurde im Jahr 2010 im Rahmen eines Verfassungsreferendums eingeführt. Doch weitere Kompetenzen für dieses Amt waren mit dieser Verfassungsreform nicht verbunden. Kein Wunder also, dass die Opposition Erdogans Behauptung als "Putsch" zurückwies. Erdogan, der Hausbesetzer Denn Erdogan tut zwar so, als gebe es in seinem Land ein Präsidialsystem, was auch der Grund ist, weshalb er von Anfang an jede Koalition abgelehnt hat. Aber den faktischen Verfassungsbruch nachträglich legalisieren zu wollen, ist in etwa so, als würde jemand in ein Haus einziehen, das ihm nicht gehört, es nach Gutdünken nutzen und irgendwann sagen: "Die Eigentumsverhältnisse haben sich faktisch geändert, jetzt muss die Eintragung im Grundbuch angepasst werden." Das sieht auch der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas so (Link: http://www.welt.de/143993396) . "Man ändert nicht dir nichts, mir nichts ein politisches System", sagte er am Dienstag und schlug vor, die Neuwahl des Parlaments mit einem Referendum zu verbinden. Das Volk möge über einzige Frage abstimmen: "Soll in der Türkei ein Präsidialsystem eingeführt werden – ja oder nein?" Allerdings ist es eher unwahrscheinlich,
dass sich Erdogan darauf einlässt. Schon die letzte Parlamentswahl war
gewissermaßen eine Abstimmung über ein Präsidialsystem. 400 Abgeordnete
wollte Erdogan vor dieser Wahl haben – das Quorum, um die Verfassung zu
ändern. Er bekam 258, also nicht einmal die Hälfte aller Mandate.
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