Neue Zürcher Zeitung, 19.08.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/erdogans-kurdisches-pulverfass-1.18598049

Zerschellte Hoffnung auf Frieden

Erdogans kurdisches Pulverfass

Der türkische Präsident Erdogan will die PKK-Rebellen mit Bomben in die Knie zwingen. In der Grenzstadt Silopi fürchten die Kurden den Krieg. Beugen wollen sie sich nicht. Ein Besuch.

von Inga Rogg, Silopi

Es waren emotionale Worte, gesprochen an einem für die Kurden höchst symbolischen Tag. Er bete für Frieden an diesem Tag der Hoffnung, sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Nie wieder sollten Mütter weinen müssen. Das war am 21. März, an Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest. Für viele Kurden klangen Erdogans Worte wie ein Versprechen. Fünf Monate später wirken sie wie Sätze aus einer längst vergangenen Zeit.

Die Hoffnungen auf Frieden sind zerschellt, in den kurdischen Gebieten im Südosten sprechen heute wieder die Waffen. Soldaten, Polizisten, kurdische Kämpfer und Zivilisten sterben, Mütter und Väter trauern um ihre Kinder, Mütter und Väter wie Zeynep und Yasin Tamboga aus Silopi.

Im Hof des Hauses im Stadtteil Basak, das sich vier Familien teilen, hat sich die Trauergemeinde versammelt. Die Männer sitzen auf einfachen Plasticstühlen im Kreis, die Frauen auf Matten am Boden vor der Hauswand, eine Tochter serviert den Gästen Wasser und Tee. «Mein Sohn hat niemandem etwas zuleide getan. Er hat nie geflucht. Und er hat nie Steine geworfen», sagt Zeynep Tamboga. «Er hatte nur Fussball im Kopf, sonst nichts.» Am Freitag, dem 7. August, wurde Hidir direkt vor dem elterlichen Haus von Sicherheitskräften erschossen. Gerade einmal 17 Jahre alt ist er geworden.

Zum Terroristen gemacht

Über der Eingangstür zur Wohnung der Tambogas hängt ein Bild von Hidir. Es zeigt einen lächelnden Teenager mit steil nach oben gestyltem Haar. Einen Terroristen nennt die regierungsnahe Presse den 17-Jährigen und zwei weitere Zivilisten, unter ihnen ein 58-Jähriger, die an jenem Tag getötet wurden. Für Zeynep und ihren Mann ist das Salz in die offene Wunde. «Warum tut uns der Staat das an?», fragt die 40-Jährige, die nur Kurdisch spricht. «Wir leben in diesem Land, gehören zu diesem Land. Der einzige Unterschied ist, dass wir eine andere Sprache sprechen. Aber sie behandeln uns wie Terroristen.»

Begonnen hatte die jüngste Eskalation nach dem Selbstmordanschlag in Suruc am 20. Juli, dem 33 prokurdische Aktivisten zum Opfer fielen. Zwei Tage danach brachten mutmassliche Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zwei Polizisten um. Erdogan gab den Befehl zu Luftangriffen auf die PKK. Gleichzeitig setzte im ganzen Land eine Verhaftungswelle ein, Hunderte von kurdischen Aktivisten und Politikern landeten seitdem im Gefängnis. In Basak kennt man das nur zu gut. Noch jedes Mal, wenn der Staat Jagd auf vermeintliche Militante machte, tauchte die Polizei auch in diesem Quartier im Norden von Silopi auf.

Doch diesmal wollten sich die Einwohner nicht einfach abführen lassen wie Lämmer. Sie wappneten sich, bauten Barrikaden und rissen Gräben in die schmalen Strassen. Als an jenem verhängnisvollen Freitag Sondereinheiten der Polizei anrückten, um die Barrikaden zu beseitigen, griffen militante Jugendliche zu den Waffen. Zwei Stunden dauerte das Feuergefecht. Erst als die Schiesserei vorbei war, sei Hidir auf die Strasse gegangen, sagt seine Schwester Kevser. Auch sie beschreibt ihren Bruder als weitgehend unpolitischen Fussballfan, regelrecht fanatisch sei er gewesen. Und offenbar war er selbst ein grosses Talent. Sein Gymnasium kürte ihn nach der Meisterschaft 2014/2015 zum Fussballer des Jahres.

Bomben auf die Cudi-Berge

Die Medaille hängt jetzt an Hidirs Grab auf dem sogenannten Märtyrer-Friedhof von Silopi. Schräg gegenüber ist das staatliche Spital. Am Eingang vor dem Spital sollen Polizisten den 58-jährigen Hamdin Uluas erschossen haben, den eine Polizeikugel am Arm getroffen hatte. Ärzte bestätigten die Angaben von Angehörigen im Gespräch. Sein Grab liegt nur wenige Meter von demjenigen Hidirs entfernt. Die meisten der 30 Gräber sind jedoch von PKK-Kämpfern und -Kämpferinnen, die in Gefechten mit den Extremisten des Islamischen Staats (IS) im Irak oder in Syrien getötet wurden. Angehörige haben die Gräber mit Tüchern und Blumen in den kurdischen Farben geschmückt. An etlichen haben sie unter einer PKK-Flagge ein Bild der Verstorbenen in Kampfuniform aufgestellt.

Zwei Jahre duldete die Regierung die «Märtyrer»-Begräbnisse. Doch seit Erdogan der PKK den Krieg erklärt hat, müssen die Kurden um die Bestattung jedes ihrer Toten ringen, die auf dem Schlachtfeld in Syrien umkamen – und das, obwohl sich Ankara offiziell inzwischen der Anti-IS-Koalition angeschlossen hat. Aber nicht nur das: «Während des Friedensprozesses konnten wir unsere Felder am Fusse der Berge bebauen», sagt der Friedhofsverwalter Zübeyir Acar. Heute sind die Gebiete Sperrgebiet.

Im Minutentakt kann man an diesem heissen Augusttag die Einschläge von Bomben in den Cudi-Bergen, nördlich von Silopi, hören. Vierzig Minuten dauert das Bombardement. Kurden werfen der Armee vor, Waldbrände zu legen, um der PKK-Kämpfer habhaft zu werden. Die Früchte und das Gemüse, das Acar angebaut hat, verrotten. «Wenn ich in mein Dorf gehe, schiessen sie auf mich», sagt er. «Es ist fast wie in den neunziger Jahren.»

Angst der Polizei

Systematisch zerstörte die Armee während des Bürgerkriegs Tausende von Dörfern. Allein nach Silopi, diesem öden Flecken nahe der irakischen Grenze, flohen damals Zehntausende. Die Bewohner im Stadtteil Basak sind samt und sonders Vertriebene. In fast jeder Familie gibt es jemanden, der im Gefängnis sass oder getötet wurde, andere haben sich der PKK angeschlossen. Wände sind mit dem Konterfeit des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan und kurdischen Parolen besprüht.

Zwei Tage nach den tödlichen Schüssen auf Hidir explodierte vor dem Haus der Tambogas ein Sprengsatz, als ein gepanzerter Polizeiwagen vorbeifuhr. Vier Polizisten einer Sondereinheit wurden getötet. In Basak will darüber niemand reden. «Wir haben Angst, sobald wir das Revier verlassen», sagt ein junger Polizist, der die zerfetzten Körperteile eines Kameraden bergen musste. «Sie reden von Demokratie. Aber wir werden ihnen eine Lektion in Sachen Demokratie erteilen.»

So wächst auf beiden Seiten der Hass. Zahlreiche Häuser in Basak sind von Einschusslöchern übersät, an etlichen sind die Wände und Eingangstore niedergewalzt, mindestens vier Häuser sind ausgebrannt. An einer Ecke steht der ausgebrannte Bagger, mit dem die Polizei die Barrikaden beseitigen wollte. Seitdem haben die Bewohner des Quartiers die Barrikaden noch verstärkt und neue Gräben ausgehoben. An manchen Ecken sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Ein zweites Kobane nennen die Bewohner ihr Quartier. Und wie die syrischen Kurden wollen sie zur Not um Basak kämpfen. Viele haben aus Angst vor den Übergriffen der Sicherheitskräfte freilich Zuflucht bei Verwandten gesucht.

«Die PKK ist unser einziger Schutz», sagt eine Gruppe von Frauen im Chor. «Ohne sie hätten sie uns alle umgebracht.» Die PKK hat durch die türkischen Bombardements nach Angaben von Insidern hohe Verluste erlitten. Doch ihre Popularität ist damit noch gewachsen. Ganz offen reden Jugendliche mit der Reporterin über ihre Pläne, in die Berge zu gehen, wie man hier sagt. Familienväter zeigen stolz Handyfotos ihrer Kinder, die sich in den letzten Wochen der Guerilla angeschlossen haben. Ob Erdogan klar ist, auf welchem Pulverfass er sitzt? Der Krieg gegen die Rebellen werde weitergehen, bis der letzte «Terrorist» geschlagen sei, sagte der Präsident vor wenigen Tagen. Und am Begräbnis für einen getöteten Soldaten erklärte er den Angehörigen, sie dürften sich glücklich schätzen, dass ihr Sohn als Märtyrer gestorben sei.

Der Schmerz der Eltern

Für Väter wie Yasin Tamboga sind solche Worte Hohn. Zwei seiner Söhne sind beim Militär. Hart hat der Lastwagenfahrer gearbeitet, um seine fünf Kinder grosszuziehen. Er hat sich das Brot vom Mund abgespart, um ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Seine älteste Tochter studiert, das hätte er sich auch für Hidir gewünscht. «Ich weiss, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren», sagt er. «Niemand sollte diesen Schmerz erleiden, ob Eltern von Soldaten, Polizisten oder Guerillakämpfern. Wir möchten in diesem Land bloss in Frieden leben.» Frieden ist das häufigste Wort, das wir in diesen Tagen von Kurden hören. Frieden, aber nicht um den Preis der Unterwerfung. «Wir wollen unsere Sprache sprechen und in Freiheit leben», sagt Tamboga. «Ist das zu viel verlangt?» Die Trauergemeinde wird allmählich kleiner. Auch wir sollten uns auf den Weg machen, rät die Familie.

In der Nähe fallen Schüsse. Warum, weiss keiner. Am Ende der Strasse taucht ein gepanzerter Polizeiwagen auf. So gehe das ständig, sagt eine Alte. «Nachts schiessen sie auf alles, was sich bewegt, sogar auf kleine Kinder.» Die Dämmerung bricht herein. Familien verlassen mit ihren Kindern das Quartier. Im Stadtzentrum lassen Geschäftsleute die schweren Rollläden aus Eisen herunter. Scharf kratzt das Metall aneinander. Bei Einbruch der Dunkelheit ist niemand mehr auf den Strassen, Silopi wird zur Geisterstadt. In der Ferne kann man das Brummen von Helikoptern hören, in den Cudi-Bergen – dort, wo die Arche Noah gelandet sein soll – schlagen Granaten ein. Schüsse hallen durch die Nacht.

Die Feuerwehrleute von der HDP

iro.⋅ Die türkische Regierung habe alles getan, um den Friedensprozess voranzubringen, sie habe ein Reformpaket auf den Weg gebracht, um die Forderungen der Kurden zu erfüllen. Trotzdem habe sich die PKK geweigert, die Waffen niederzulegen, schlimmer noch: Die Rebellen hätten die Verhandlungen schamlos ausgenutzt, um weiteren Terror zu verbreiten. So klingt es, wenn sich Ibrahim Kalin, Berater und Sprecher von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, zu Wort meldet.

In dieser Lesart blieb der Türkei gar keine andere Wahl als der Krieg gegen den «Terrorismus». Die meisten Kurden sind dagegen überzeugt, Ankara bombardiere die PKK nur, weil Erdogan damit die Demokratische Partei der Völker (HDP) schwächen wolle. Das glauben sogar seine kurdischen Wähler; viele sind enttäuscht, denn auch sie wollen Frieden. Mit ihrem Wahlerfolg hat die HDP Erdogans Träume von einem autoritären Präsidialsystem zunichtegemacht. «Erdogan konnte vom Frieden nicht profitieren, nun versucht er es mit Krieg», sagt der Abgeordnete Faysal Sariyildiz. Mit über 85 Prozent hat die HDP in der Provinz Sirnak, zu der Silopi gehört, ein Ergebnis erzielt wie sonst nur die bayrische CSU in ihren Hochburgen. Nur in der Nachbarprovinz Hakkari holte die HDP noch mehr Stimmen. Der 40-Jährige hat zum zweiten Mal ein Mandat geholt. Die erste Amtszeit verbrachte er allerdings grossteils im Gefängnis. Erst nach Verbüssung seiner fünfjährigen Haftstrafe wegen «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung» kam er im Oktober 2014 wieder frei.

Statt sich um Fragen der grossen Politik zu kümmern, ist Sariyildiz derzeit in einem Wahlkreis im Dauereinsatz. Er bringt Verletzte ins Spital und deren Angehörige, die Angst vor Festnahmen haben; versucht, mit dem von der Regierung eingesetzten Gouverneur zu verhandeln, oder stellt sich mit Parlaments- und Parteikollegen zwischen Polizei und Demonstranten, um Eskalationen zu verhindern. So geht es derzeit fast überall in den kurdischen Gebieten zu, denn an allen Ecken brennt es. Sariyildiz will weiteres Blutvergiessen verhindern. «Wir wollen keine Revolution mit Waffen. Damit ersetzt man meistens nur einen Diktator durch einen anderen», sagt der Abgeordnete. «Wir wollen keinen Diktator. Deshalb will uns Erdogan kleinkriegen. Aber er wird damit scheitern.»