welt.de, 19.08.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article145408447/Kurdische-Staedte-erklaeren-ihre-Selbstverwaltung.html Erdogan vs. PKK Kurdische Städte erklären ihre "Selbstverwaltung" Mehrere kurdische Städte erklären ihre "Selbstverwaltung" während die PKK sich Gefechte mit Sicherheitskräften liefert. Erdogan drängt derweil auf Neuwahlen, doch das könnte ein Fehler sein. Von Deniz Yücel Schon länger träumt die türkische Regierung davon, in Syrien eine "Sicherheitszone (Link: http://www.welt.de/143335687) " zu errichten, um den Zustrom weiterer Flüchtlinge aufzuhalten, aber auch, um den Einfluss der syrisch-kurdischen Miliz PYD einzudämmen. Doch nun werden ganze Städte in der Türkei zum Kriegsgebiet. In mehreren Orten im kurdischen Osten und Südosten des Landes kam es in den vergangenen Tagen zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen PKK-Kämpfern (Link: http://www.welt.de/themen/pkk/) . Zeitweise übernahm die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDGH), die in städtischen Gebieten auftritt, die Kontrolle über Stadtgebiete. Etwas Vergleichbares hatte es seit Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr gegeben. Die jüngste Eskalation geht mit einem Aufruf zur "Selbstverwaltung" einher, den die PKK in der vergangenen Woche verbreitete. Angesichts des Beharrens der AKP-Regierung auf den Nationalstaat bleibe dem kurdischen Volk nichts anderes als die Selbstverwaltung übrig. Diesem Aufruf folgend, erklärte zunächst ein "Volksparlament" die "Selbstverwaltung" in der rund 60.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt Sirnak. Da die AKP-Regierung ganz Kurdistan den Krieg erklärt habe, hätten alle staatlichen Institutionen in Sirnak ihre Legitimation verwirkt, hieß es. "Ab jetzt werden wir uns am Prinzip der Selbstverwaltung orientieren und unser Leben auf demokratischer Grundlage aufbauen. Bei Angriffen werden wir von unserem demokratischen Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen", hieß es in der Erklärung. Seither haben insgesamt zwölf Orte – außer Sirnak zehn Kleinstädte sowie Sur, ein Bezirk der heimlichen kurdischen Hauptstadt Diyarbakir – ihre "Selbstverwaltung" ausgerufen. Als letzte schloss sich Lice in der Provinz Diyarbakir an, jener Distrikt, in dem 1978 die PKK gegründet worden war. PKK-Kämpfer besetzen Stadt Regiert werden diese Orte von der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), der mit Abstand größten Organisation innerhalb der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP), die bei der Parlamentswahl Anfang Juni landesweit knapp 13 Prozent erreichte und in diesen Orten Ergebnisse von 80 Prozent der Stimmen erzielte. Dem Vernehmen nach gehören auch Lokalpolitiker der DBP den "Volksparlamenten" an. Einige Lokalpolitiker, darunter die Bürgermeister des Bezirks Sur, wurden inzwischen festgenommen. Am Wochenende besetzten mit Maschinengewehren und Raketenwerfern ausgerüstete Kämpfer der PKK-Jugendorganisation YDGH Teile der 10.000-Einwohner-Stadt Varto. Einige Tage zuvor war aus dieser Gegend ein Foto publik geworden, auf dem Sicherheitskräfte vor der nackten Leiche einer getöteten PKK-Kämpferin posierten. Die Militanten hoben Gräben aus, verlegten Minen und forderten die im Ort befindlichen Sicherheitskräfte dazu auf, in ihren Gebäuden zu bleiben. Erst fast 24 Stunden später gewannen diese die Kontrolle zurück; bei den Schusswechseln sollen sechs Kämpfer der YDGH ums Leben gekommen sein. Am Dienstag erlebte der knapp 90.000 Einwohner zählende Ort Silvan in der Provinz Diyarbakir ein ähnliches Szenario. Den Tag über hielten PKK-Kämpfer vier Stadtteile besetzt, während drumherum Polizei und Armee mit schweren Waffen und Scharfschützen aufzogen. Alle Straßen nach Silvan wurden unterbrochen, Telefon, Internet und Strom waren abgestellt. Schließlich drangen Sicherheitskräfte in die Viertel ein, und es kam zu Gefechten, bei denen ein YDGH-Kämpfer ums Leben kam. Ob auch Sicherheitskräfte starben, wurde zunächst nicht bekannt. Einige Straßenzüge boten danach ein Bild der Verwüstung. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, Wohnhäuser und Geschäfte zerstört zu haben. Militante fordern Freilassung von Gefangenen Am Nachmittag versuchte eine Gruppe von Politikern der HDP, darunter Gültan Kisanak (Link: http://www.welt.de/141772265) , die Oberbürgermeisterin von Diyarbakir, zu vermitteln. "Der Gouverneur war kooperativ", sagte der HDP-Abgeordnete Ziya Pir, der zur Vermittlergruppe gehörte, im Gespräch mit der Welt. Am Mittwoch hätten sich die Sicherheitskräfte zurückgezogen, während sich YDGH-Kämpfer weiterhin verschanzt hielten. Inzwischen ist der Ausnahmezustand über Silvan aufgehoben. "Jetzt können beide Seiten behaupten, sie hätten gewonnen", meint Pir. Die Militanten würden die Freilassung der rund 1500 Personen verlangen, in den vergangenen Wochen im ganzen Land festgenommen wurden. Außerdem solle die Türkei wieder die Überführung von getöteten PKK-Kämpfern (Link: http://www.welt.de/144746825) aus Syrien gestatten und an den Verhandlungstisch zurückkehren. Pir rechnet mit einer weiteren Eskalation: "Meine Befürchtung ist, dass die erfahrenen Guerillakämpfer aus den Bergen irgendwann in die Städte kommen." Oberbürgermeisterin Kisanak erklärte vor Journalisten, dass auch sie die "Selbstverwaltung" ausrufen werde, falls die Festnahmen von Lokalpolitikern nicht aufhörten. Auch in den Orten Lice und Semdinli kam es in den vergangenen Tagen zu Gefechten. Am Dienstagabend wurde in Istanbul ein 15-jähriger Demonstrant von der Polizei erschossen; am Mittwoch starben in der südostanatolischen Provinz Siirt acht Soldaten durch eine Sprengfalle der PKK; am Mittwoch eröffneten in Istanbul zwei Personen das Feuer auf die wachhabenden Polizisten vor dem Dolmabahce-Palast. Die beiden Angreifer wurden kurz darauf festgenommen, die Hintergründe blieben zunächst unklar. Erdogans Plan droht zu scheitern Auch in anderer Hinsicht scheint die Türkei in die blutigen Neunzigerjahre zurückzukehren: Am Mittwoch wurden Todesdrohungen einer "Türkischen Rachebrigade" gegen linke Journalisten bekannt. Eine Organisation dieses Namens hatte hatte sich bereits in der Vergangenheit zu Morden an Oppositionellen bekannt. Unterdessen sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan) am Mittwoch bei einer Rede vor Dorfvorstehern, dass er keine Zeit mit Leuten verschwenden werde, die seinen Palast (Link: http://www.welt.de/141497416) nicht anerkennen würden. Offenbar denkt er nicht daran, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen, was er nun, nachdem Ministerpräsident Ahmet Davutoglu diesen Auftrag zurückgegeben hat, eigentlich tun müsste (Link: http://www.welt.de/145342795) . Erdogan drängt auf eine Neuwahl
– fragt sich bloß, mit welchem Ergebnis. Eine am Dienstag veröffentlichte
Umfrage des seriösen Meinungsforschungsinstituts Gezici sieht die AKP
derzeit bei 39 Prozent – knapp drei Prozentpunkte unter ihrem Wahlergebnis.
Auch die rechte MHP fällt demnach zurück, während sich die CHP von 25
auf 28 Prozentpunkte verbessert. Die prokurdische HDP schließlich, die
Erdogan unter die Zehn-Prozent-Hürde drücken möchte (Link: http://www.welt.de/144746825)
, liegt bei 14 Prozent – einen Prozentpunkt über ihrem Wahlergebnis.
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