Neue Zürcher Zeitung, 20.08.2015

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Der Kurdenkonflikt und die Wirtschaft

Verpasste Friedensdividende

Vor einem Monat ist der Waffenstillstand zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der türkischen Regierung zerbrochen. Das Scheitern des Friedensprozesses wirft auch die Wirtschaft zurück.

von Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Frieden gab es nicht, aber einen soliden Waffenstillstand. Nach über drei Jahrzehnten Krieg hatten die militante Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die türkischen Sicherheitskräfte im Frühjahr 2013 ihre Angriffe weitgehend eingestellt. Beide Seiten weckten Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung eines Konflikts, der mehr als 35 000 Menschenleben gefordert hat. Ausländische Investmentbanken schwärmten von einer neuen Wachstums-«Story» im Grenzgebiet zwischen der Türkei, Iran und dem Irak. Recep Tayyip Erdogan, damals Regierungschef und heute Staatspräsident, prophezeite einen Investitionsboom, wenn «das Problem mit den Kurden» gelöst werde.

Grossspurige Pläne

Die Gewalteskalation in den letzten vier Wochen, für die sich beide Seiten die Schuld zuweisen, hat diese Perspektiven freilich in ferne Zukunft gerückt. In den mehrheitlich kurdischen Provinzen im Süden und Südosten der Türkei verübt die PKK beinahe täglich Anschläge auf Armee- und Polizeieinheiten. Ins Visier geriet auch die Erdgaspipeline aus Iran, über welche die Türkei einen Fünftel ihres Gasbedarfs bezieht. Kampfjets des türkischen Militärs bombardieren neben mutmasslichen Verstecken innerhalb der Landesgrenzen auch das Rückzugsgebiet der PKK im kurdischen Teilstaat des Iraks.

Leidtragende des wieder aufgeflammten Bürgerkriegs sind die ohnehin strukturschwachen Regionen im Osten und Südosten der Türkei. In Südostanatolien mit der Kurdenhochburg Diyarbakir erreicht das verfügbare Haushaltseinkommen mit jährlich 20 400 Lir. (6927 Fr.) nur die Hälfte des Durchschnittswerts in der Wirtschaftsmetropole Istanbul. Die Arbeitslosenquote liegt mit 16% weit über der nationalen Marke von rund 9%. Die türkische Regierung trumpft derweil mit Investitionszahlen auf: Allein in der Provinz Diyarbakir habe die öffentliche Hand seit 2002 – als die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zum entscheidenden Machtfaktor aufstieg – 13,9 Mrd. Lir. (4,7 Mrd. Fr.) für Infrastruktur, Landwirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen und Häuserbau aufgewendet. Vor wenigen Monaten reanimierte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu das sogenannte Südostanatolien-Projekt (GAP) – ein grossspuriges Entwicklungsprojekt, das 10 Mrd. $ für Bewässerungssysteme, Wasserkraftwerke und Staudämme bereitstellt.

Dass die ärmsten Regionen der Türkei aufholen, bestätigte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in ihrem jüngsten Länderbericht. Doch monieren Kritiker, dass sich die wirtschaftliche Dynamik weitgehend auf Regionen beschränke, die vom Kurdenkonflikt wenig tangiert würden. So vermochte etwa in Südostanatolien die Provinz Gaziantep ihre Exportleistung markant zu steigern (unter anderem mit maschinell hergestellten Teppichen). Diyarbakir, im landwirtschaftlich geprägten «Kernland» des Konfliktgebiets, kam dagegen nicht wirklich voran.

Zudem gleichen manche Städte im kurdischen Kernland wegen der hohen Militär- und Polizeipräsenz einer Festung. Touristen schreckt dies ebenso ab wie potenzielle Investoren, die trotz Steueranreizen wenig Begeisterung für die instabile Region zeigten. Nach einer Schätzung des türkischen Wirtschaftsministeriums schmälerte der Bürgerkrieg das reale Wirtschaftswachstum des Schwellenlandes Jahr für Jahr um 0,5%. Gerade jetzt, wo die Wachstumsprognosen wenig berauschend sind, könnte die Türkei eine Friedensdividende gut gebrauchen.

Abnehmer kurdischen Öls

Die neu entfachten Feindseligkeiten dürften dazu führen, dass vielversprechende Projekte, unter anderem im Bergbau oder in der Erschliessung vermuteter Schiefergasreserven, zurückgestuft werden. Die Eskalation droht überdies die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem kurdischen Teilstaat im Irak und der Türkei zu belasten. Ankara gehört zu den wichtigsten Abnehmern von kurdischem Erdöl, das über eine Pipeline an die türkische Mittelmeerküste geleitet wird. Ende Juli wurde diese strategische Verbindung Ziel eines Anschlags von PKK-Mitgliedern. Später hiess es, die Operation sei nicht von der PKK-Führung angeordnet worden. Das Verhältnis der Rebellen, die im Nordirak ihr Hauptquartier haben, zu den dortigen Behörden ist gespannt.

Der Präsident der Autonomieregierung, Masud Barzani, hielt sich seinerseits mit Kritik an den Bombardements der Türken zurück. Vielmehr rief er die Regierung in Ankara und die PKK zu einem Waffenstillstand auf. Doch gibt es in Erbil, wo die Türkei zu den wichtigsten Investoren gehört, auch Stimmen, die auf ein sofortiges Ende der militärischen Interventionen auf irakischem Boden drängen. Für ein Ende der Kampfhandlungen lobbyieren auch türkische Unternehmerverbände, da sie aufgrund des Konflikts wirtschaftliche Einbussen befürchten.

Ankara sieht sich gegenüber Erbil in einer Position der Stärke: Die kurdischen Erdölexporte hätten ohne die Türkei nicht stattgefunden, stellte Energieminister Taner Yildiz diese Woche süffisant fest. Er bezog sich auf den Umstand, dass sich Bagdad den Erdölgeschäften des autonomen Teilstaats zunächst widersetzt hat, weil befürchtet wurde, dass dadurch die Autorität der Zentralregierung untergraben werde. Im Dezember 2014 wurde dann ein Abkommen erzielt, gemäss dem Erbil täglich 300 000 Barrel von Kirkuk nach Ceyhan in der Südtürkei pumpen darf. Doch haben die Kurden laut Presseberichten diese Obergrenze wiederholt überschritten und die irakische Staatsgesellschaft Somo bei der Vermarktung umgangen, was der Vereinbarung vom Dezember widersprechen würde.

Politische Instabilität

Der Kurdenkonflikt wirft ein Schlaglicht auf die Verwundbarkeit der Türkei, zumal Ankara sich inmitten eines Zweifrontenkriegs befindet, da nach Darstellung Erdogans auch die Extremisten des Islamischen Staats (IS) ins Visier genommen werden. Der politischen Stabilität wenig förderlich ist, dass seit der Parlamentswahl vom 7. Juni lediglich eine Interimsregierung das Schwellenland führt. Die Aussichten für eine Koalitionsregierung haben sich nach fruchtlosen Verhandlungen zerschlagen. Noch in diesem Herbst dürfte die Bevölkerung erneut an die Wahlurne gerufen werden.