Der Tagesspiegel,
20.08.2015
http://www.tagesspiegel.de/politik/kurden-is-lira-praesident-erdogan-setzt-auf-neuwahlen/12213922-2.html
Kurden, IS, Lira
Die Türkei
steht am Abgrund
Von Thomas Seibert
Das Land am Bosporus
steckt in der Krise. Im Inneren greifen Extremisten an, von außen der
IS, die Lira stürzt ab, der Präsident spaltet, statt zu einen. Was ist
los in der Türkei?
Mehr als 30 Tote bei
Gefechten an nur einem Tag, Rufe nach der Verhängung des Kriegsrechts,
eine politische Krise und eine Währung, die ins Bodenlose stürzt: In der
Türkei verbreitet sich das Gefühl, das Land rase auf einen Abgrund zu.
Präsident Recep Tayyip Erdogan, der als Staatschef eigentlich die Rolle
als Versöhner spielen sollte, tut alles, um die Spannungen noch weiter
anzuheizen. Ihm geht es um die anstehenden vorgezogenen Neuwahlen, doch
einige Beobachter attestieren dem Präsidenten einen zunehmenden Realitätsverlust:
Erdogan sei „kein rationeller Akteur“ mehr, meint der Politologe Behlül
Özkan.
Welche Gruppen kämpfen in der
Türkei?
Vor einem Monat, am 20. Juli, sprengte sich ein Anhänger der Dschihadisten-Miliz
„Islamischer Staat“ (IS) in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze in
die Luft und tötete mehr als 30 Menschen. Die Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK) gab Ankara eine Mitschuld an dem Terrorakt und begann mit Mordanschlägen
auf türkische Polizisten und Soldaten. Die türkische Regierung antwortete
mit massiven Luftangriffen auf PKK-Stellungen im Nordirak und Südostanatolien.
Seitdem eskalieren die Gefechte immer weiter. Allein am Mittwoch starben
nach Regierungsangaben acht Soldaten und 24 PKK-Kämpfer. Die PKK hat im
Südosten mehrere Gebiete für „autonom“ erklärt, errichtet Straßensperren
und tötet Soldaten mit Sprengfallen im Straßengraben. Die Armee setzt
Flugzeuge, Kampfhubschrauber und gepanzerte Fahrzeuge ein – der Waffenstillstand
von 2013, der zwei Jahre lang hielt und dem Kurdengebiet Hoffnung auf
Frieden gab, liegt in Trümmern.
Unterdessen droht der IS mit Anschlägen in der Türkei und ruft zum Sturz
des „Teufels Erdogan“ auf. Die Türkei errichtet eine Mauer an der Grenze
zu Syrien, um IS-Mitglieder am Übertritt zu hindern, doch laut Presseberichten
verfügen die die Extremisten längst über Sprengstoff und Schläferzellen
in der Türkei.
Auch die linksextreme Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C)
meldet sich verstärkt mit Gewalttaten zurück. Mitglieder der Gruppe beschossen
vergangene Woche das US-Konsulat in Istanbul und griffen am Mittwoch die
Ehrenwache am Dombabahce-Palast im Zentrum der Metropole an.
Was tut die Politik?
Die Gewaltwelle im Land ist ein Faktor im beginnenden Wahlkampf für die
Parlamentsneuwahl, die laut Wahlamt schon am 1. November stattfinden könnte.
Die Nationalistenpartei MHP fordert die Verhängung des Ausnahmezustandes
über Teile Ostanatoliens. Erdogans Regierungspartei AKP versucht, die
legale Kurdenpartei HDP in die Nähe der PKK zu rücken, um auf diese Weise
Wähler zurückzugewinnen, die sie bei der Wahl im Juni verloren hatte.
In der aufgeheizten Stimmung schlägt auch der Streit zwischen Regierung
und Opposition in Gewalt um. Unbekannte eröffneten in Istanbul das Feuer
auf den Wagen von Murat Sancak, den Chef der regierungsnahen Mediengruppe
Star. Sancak blieb unverletzt. AKP-Anhänger machten die HDP für den Anschlag
mitverantwortlich.
Nachdem die AKP im Juni ihre absolute Mehrheit im Parlament einbüßte,
führte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, Erdogans Statthalter als AKP-Chef,
wochenlange Gespräche zur Bildung einer Koalition, scheiterte aber. Die
meisten Beobachter sind sich einig, dass dieses Scheitern von Erdogan
gewollt war: Der Präsident ist sicher, bei Neuwahlen die absolute Sitzmehrheit
der AKP zurückgewinnen zu können. Erdogans Fernziel bleibt die Errichtung
eines Präsidialsystems mit ihm selbst an der Spitze.
Allerdings sagen die Umfragen voraus, dass die HDP auch bei einer Neuwahl
mehr als zehn Prozent der Stimmen erhalten und damit im Parlament bleiben
wird. Mehrere Institute halten es sogar für möglich, dass die HDP ihren
Wähleranteil noch über die im Juni erreichten 13 Prozent hinaus ausbauen
kann. Das würde es der AKP sehr schwer machen, die absolute Mehrheit von
276 Mandaten zu erreichen. Ohne absolute Mehrheit für eine Partei wird
nach der Neuwahl die Suche nach einer Koalition von vorne losgehen.
Bis zur Wahl wird in Ankara voraussichtlich eine Übergangsregierung gebildet,
der laut Verfassung alle Parteien angehören sollen. Da CHP und MHP dabei
nicht mitmachen wollen, bleiben AKP und HDP: Es wäre das erste Mal in
der Geschichte der Türkei, dass eine Kurdenpartei in der Regierung sitzt.
Laut Medienberichten soll die HDP die Ministerien für Landwirtschaft,
Tourismus und Fortwirtschaft erhalten.
Präsident Erdogan setzt auf
Neuwahlen
Wie reagiert die Wirtschaft?
Nach der Wahl vom Juni wünschte sich die türkische Wirtschaft die Bildung
einer Großen Koalition aus AKP und CHP, wurde aber enttäuscht. Die politischen
Unwägbarkeiten, verbunden mit der eskalierenden Gewalt, machen den Investoren
Sorgen. Ohnehin gehört die Türkei zu jenen Schwellenländern, die wegen
der bevorstehenden Zinsanhebung in den USA mit einem starken Abfluss von
ausländischem Kapital zu rechnen haben. Gleichzeitig steigt stetig die
Arbeitslosigkeit.
Die Aussicht auf einen neuen Wahlkampf mit anschließender, möglicherweise
erneut schwieriger Regierungsbildung macht die Lage nicht besser. Die
Türkische Lira rutschte in den vergangenen Tagen so stark ab, dass jetzt
erstmals mehr als drei Lira für einen US-Dollar gezahlt werden müssen.
Seit Jahresbeginn hat die türkische Währung ein Viertel ihres Wertes verloren.
Das kann der Türkei teuer zu stehen kommen, denn das Land ist von Energie-Importen
abhängig, die in Dollar bezahlt werden müssen. Energieminister Yildiz
beziffert allein die Mehrkosten für Erdgas-Einfuhren seit Anfang des Jahres
auf umgerechnet 3,4 Milliarden Euro.
Verluste stehen auch beim Tourismus ins Haus. Die Fremdenverkehrsbranche
meldet Stornierungen von Urlaubern, denen die Türkei nicht mehr sicher
erscheint. Viele russischen Feriengäste bleiben wegen der westlichen Ukraine-Sanktionen
in dieser Saison ohnehin weg. Der Wirtschaftsjournalist Ugur Gürses sieht
wegen der desolaten Lage von Politik und Wirtschaft eine baldige Abstufung
der Türkei durch die internationalen Rating-Agenturen voraus.
Was ist Erdogans Rolle?
Als Staatsoberhaupt steht Erdogan laut Verfassung über den Parteien, doch
der 61-jährige verhält sich so, als wäre er immer noch der AKP-Chef, der
gegen die politischen Gegner zu Felde zieht. Fast jeden Tag attackiert
Erdogan seine Kritiker und verschärft seinen Ton immer weiter. Zuletzt
bezeichnete er kritische Journalisten und „so genannte Intellektuelle“
als „niedriger als Vieh“. Damit bezog sich Erdogan auf die „Höhen“-Sure
des Koran, in denen von Menschen die Rede ist, die Herzen haben, aber
nicht verstehen, Augen haben, aber nicht sehen, Ohren haben, aber nicht
hören. In der Türkei müsse sich nun jeder entscheiden, sagte Erdogan:
für den Staat oder für den Terror. Will heißen: für Erdogan oder gegen
ihn.
Diese Polarisierung der Wählerschaft ist eine der Lieblingsmethoden Erdogans,
der damit in vielen Wahlkämpfen die Anhänger der AKP mobilisieren konnte.
Bei der Juni-Wahl versagte das Rezept allerdings. Auch jetzt gibt es Zweifel
an der Strategie. Einer der Gründe ist, dass Erdogans Plan zur Errichtung
eines Präsidialsystems bei den Wählern nicht recht ankommt. Dennoch bleibt
er bei seinem Ziel: Kürzlich erklärte er, faktisch existiere in der Türkei
bereits ein Präsidialsystem, nur müsse die Verfassung daran noch angepasst
worden. Die Opposition kommentierte, Erdogan wolle nicht der Verfassung
gehorchen, sondern erwarte, dass die Verfassung ihm gehorche.
Selbst in der AKP gibt es Bedenken wegen Erdogans Kurs. Der große Chef
verliere jeden Tag mehr die Kontrolle über die Partei, ließ sich ein AKP-Vertreter
von der Nachrichtenagentur Reuters zitieren. Der Journalist Yavuz Baydar
schrieb in der regierungskritischen Zeitung „Today’s Zaman“, die frühere
Reformpartei AKP handele unter Erdogans Druck gegen ihre eigenen Ziele.
Baydar sieht eine „ideologischen Implosion“ der AKP als „selbstzerstörerische
Folge“ des von Erdogan verordneten Kurses.
Gibt es Licht am Ende des Tunnels?
Derzeit sind keine Entwicklungen oder Akteure in Sicht, die das Land schnell
wieder beruhigen könnten. Vereinzelt wird über eine Rückkehr des allseits
respektierten Ex-Präsidenten Abdullah Gül in die aktive Politik spekuliert,
doch da Gül ein politischer Konkurrent für Erdogan wäre, ist seine Rückkehr
in die Regierung eher unwahrscheinlich.
Eine endlose Eskalation der Gewalt mit einer weiter wachsenden Zahl von
Todesopfern unter den Sicherheitskräften ist so kurz vor der angepeilten
Neuwahl allerdings nicht im Interesse der AKP. Vereinzelt gibt es regierungsfeindliche
Demonstrationen am Rande der Beisetzung gefallener Soldaten. Möglicherweise
wird die Regierung deshalb die Aktionen gegen die PKK abmildern, auch
wenn Erdogan angekündigt hat, der Kampf gegen die Kurdenrebellen werde
entschlossen fortgesetzt.
Eine andere Möglichkeit wäre die Zulassung von neuen Besuchen beim inhaftierten
PKK-Chef Abdullah Öcalan, der seit April niemanden mehr auf der Gefängnisinsel
Imrali bei Istanbul empfangen darf. In den vergangenen Jahren hatte Öcalan
der PKK mehrfach eine Waffenruhe befohlen – solch ein Appell könnte erneut
die Lage entspannen.
Mittelfristig liegt die Hoffnung auf Stabilisierung in der raschen Bildung
einer mehrheitsfähigen Regierung nach der Neuwahl. Eine neue Regierung
könnte auch die unterbrochenen Friedensgespräche mit Öcalan wieder aufnehmen.
Doch bis dahin wird noch einige Zeit vergehen: Ein neues Kabinett kann
je nach Wahlausgang erst im neuen Jahr die Arbeit aufnehmen.
|