junge Welt, 22.08.2015

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Klarer Bündnisfall

Von Stefan Huth

Die Zeiten, in denen die Regierung Erdogan das Kriegsgeschehen im Nachbarland Syrien aus der sicheren Distanz betrachtete, sind vorbei. Im Konflikt zwischen den Kurden und der Mördermiliz »Islamischer Staat« (IS) war Ankara freilich nie unparteiisch: Indem sie die Grenze für die Dschihadisten sehr durchlässig machte, Kriegsmaterial passieren ließ und verwundeten Kämpfern großzügig medizinische Betreuung gewährte, heizte die Regierung Erdogan den Konflikt fortlaufend an. Seit der einseitigen Aufkündigung des Friedensprozesses mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach dem Massaker in der türkischen Grenzstadt Suruc im Juli – 32 junge kurdische Aktivisten, die sich am Wiederaufbau der vom IS verwüsteten Stadt Kobani im Norden Syriens beteiligen wollten, starben dort bei einem offenbar islamistisch motivierten Selbstmordanschlag – dreht Ministerpräsident Erdogan frei und lässt systematisch kurdische Stellungen und Lager bombardieren. Weit über 130 Angriffe flog die türkische Luftwaffe bislang auf diese Ziele. Die Islamisten kamen dagegen sehr glimpflich davon.

Höchste Zeit, die Notbremse zu ziehen, mag man sich in Berlin gedacht haben, und kündigte am vergangenen Samstag an, Anfang 2016 die in der Türkei stationierten »Patriot«-Batterien nebst Personal zurückzuholen. Offenbar will man sich vom NATO-Partner Ankara nicht ungeplant in einen Bündnisfall verstricken lassen. Die Lage jedenfalls, sie ist unübersichtlich geworden.

In einem Leitartikel in der Welt vom Donnerstag versucht Richard Herzinger, die Akteure auf dem Kampffeld zu sortieren. Unter der Überschrift »Verklärte Kurden« nimmt der bekennende Neocon diejenigen »Volksgruppen« unter die Lupe, die die dramatischen Entwicklungen im Nahen Osten »in den Mittelpunkt der Weltpolitik« katapultiert haben. Dabei spart Herzinger nicht mit Kritik an Erdogan, der ein »Heuchler« sei, die Kurdenfrage instrumentalisiere, »um innenpolitische Gegner zu desavouieren und auszuschalten und so seinen Plan einer faktischen Präsidialdiktatur umsetzen zu können«. Auch konzediert er, dass kurdische Kämpfer verschiedener Lager »in erheblichem Maße die Last des Widerstands gegen die Ausbreitung der islamistischen Horrormiliz IS« tragen. Mit dem großen Aber folgt der Griff in die Lügenkiste: »Die PKK ist eine mörderische, totalitäre Terrororganisation, die tief in den Drogen- und Menschenhandel verstrickt ist« – wofür es allerdings, wie selbst die Bundesregierung immer wieder zugestehen musste, bis heute keinerlei Beweise gibt. Dem Schreckbild der vermeintlichen Terrorbande PKK fügt Herzinger weitere Facetten hinzu: »Es war die PKK, die damit begann, türkische Polizisten und Soldaten zu ermorden, weil sie Erdogan für den IS-Terroranschlag (von Suruc, jW) gegen kurdische Flüchtlinge (!) auf türkischem Boden vor einigen Wochen verantwortlich machte.« Dass es umgekehrt die türkische Regierung war, die den staatlichen Repressionsapparat unmittelbar nach dem Attentat gegen die Linke entfesselte, unterschlägt Herzinger dezent. Klar, die PKK kennt keine Skrupel: »Überhaupt waren die meisten Opfer ihrer terroristischen Geschichte selbst Kurden.« Klar ist für einen wie Herzinger auch, wer sich diesem Dämon zugesellt: »Besonders von seiten der Linkspartei lebt derzeit rund um die kurdische Sache jener alte ›antiimperialistische‹ Mythos wieder auf, in dem der Terror (…) allenfalls als lässliche Sünde und Ausdruck von Gegenwehr der ›unterdrückten Völker‹ erscheint.« Angesichts dieses Abgrunds an Unrecht erscheint Erdogan am Ende doch als kleineres Übel. Zumal das Wettern der Linken gegen seinen Kurs einen »durchsichtigen Grund« habe: »Die Türkei ist in der NATO, und die soll als Erzübel zerstört werden«. Da ruft Herzinger schon mal vorsorglich den Bündnisfall aus.