Neue Zürcher Zeitung, 21.08.2015

http://www.nzz.ch/international/naher-osten-und-nordafrika/stabilitaet-oder-demokratie-in-kurdistan-1.18599806

Kurdischer Präsident Barzani unter Beschuss

Stabilität oder Demokratie in Kurdistan

Die Amtszeit von Masud Barzani, Regionalpräsident von Kurdistan, ist abgelaufen. Barzani will jedoch im Amt bleiben – und fordert damit seine politischen Gegner heraus.

von Inga Rogg

Sicher, demokratisch und frei, mit diesem Dreiklang preisen die irakischen Kurden ihren Teilstaat im Nordirak im Westen gerne an. Dass die Region Kurdistan sicherer als der Rest des Iraks ist, steht ausser Frage. In Sachen Freiheit und Demokratie ist die Bilanz freilich gemischt. Auf welch wackligen Beinen ihre Demokratie steht, können die rund fünf Millionen irakischen Kurden derzeit am Streit um die Präsidentschaft von Masud Barzani erleben.

Vermittler aus Ost und West

Barzanis Amtszeit als Regionalpräsident ist am Donnerstag abgelaufen. Barzani besteht jedoch auf einer Verlängerung, und laut seiner Partei, der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), ist er weiterhin im Amt. Barzanis Gegner sind dagegen der Auffassung, dass Parlamentssprecher Yussuf Mohammed interimistisch den Posten übernehmen sollte, bis in sechzig Tagen Neuwahlen abgehalten werden. Die Amerikaner haben Brett McGurk, den stellvertretenden Sondergesandten im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS), nach Erbil entsandt, damit er in der Krise vermittle. In gleicher Mission schickten die Iraner kürzlich General Kassem Soleimani, Teherans Mann gegen den IS, nach Kurdistan.

Für Washington wie Teheran sind die Kurden ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen die Extremisten. Die gemeinsame Grenze zwischen Kurdistan und dem IS ist mehr als tausend Kilometer lang, und sie reicht von der tief im Osten liegenden Grenze mit Iran bis hin zur irakisch-syrischen Grenze im Westen. Stabilität in Kurdistan habe für Teheran oberste Priorität, berichteten kurdische Medien nach Soleimanis Besuch. Washington unterstütze die Einheit und den Kompromiss, erklärte Brett McGurk nach einer nächtlichen Sitzung mit allen beteiligten Parteien.

Im Kern geht es in dem Streit um diese Frage: Soll Kurdistan zu einer parlamentarischen oder einer präsidialen Demokratie werden? Auf der einen Seite stehen dabei Barzani und seine KDP, auf der anderen seine vier Koalitionspartner aus der Partei Goran, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und zwei islamisch orientierten Parteien. Vor allem Goran, die seit den letzten Wahlen 2013 zweitstärkste Fraktion im kurdischen Parlament ist, hat sich dabei zum Vorreiter einer parlamentarischen Demokratie gemacht. Die erst 2009 gegründete Bewegung steht dabei auch ihren Wählern gegenüber im Wort, alte Zöpfe in Kurdistan abzuschneiden und alle wichtigen Entscheidungen aus den politischen Hinterzimmern ins Parlament zu holen.

Alte kurdische Gräben

Die Rechtslage ist freilich unklar. Barzani ist seit 2005 Präsident des Regionalstaats. Gemäss der kurdischen Verfassung stehen dem Präsidenten zwei Amtszeiten von jeweils vier Jahren zu. Die Verfassung wurde freilich nicht verabschiedet, und da sich die Parteien nicht auf eine neue einigen konnten, billigten sie Barzani vor zwei Jahren eine einmalige Verlängerung von zwei Jahren zu. Inzwischen gibt es einen neuen Entwurf. Die KDP lehnt diesen ab, weil er die Wahl des Präsidenten durch das Parlament vorsieht und seine Autorität stark beschneidet. Als das Parlament am Mittwoch abstimmte, verpassten die Barzani-Gegner die nötige Mehrheit um drei Stimmen.

Der Konflikt ist deshalb so heikel, weil der gesamte Sicherheitsapparat nicht der Regionalregierung, sondern entweder von der KDP oder der PUK kontrolliert wird. Sollten die Rivalen keine Lösung finden, könnte die sicherste Region des Iraks bald schon wieder so gespalten sein wie während des Bürgerkriegs vor zwanzig Jahren.