freitag.de, 22.08.2015 https://www.freitag.de/autoren/mesut-bayraktar/tuerkei-im-teufelskreis?komplett=true Mesut Bayraktar Türkei im Teufelskreis Eine politische Analyse Die Türkei brennt. Allerdings! Ein Blog-Beitrag von Freitag-Community-Mitglied Mesut Bayraktar Die Türkei brennt. Allerdings! Wer die tollkühne Außenpolitik der türkischen Regierung verstehen will, die letztlich in die Hände des „IS“ spielt, der muss sie innenpolitisch betrachten; d.h. die Innenpolitik der türkischen Regierung bestimmt mehr oder minder die Außenpolitik derselben, die über früh oder lang in der Intervention in Syrien münden musste. Die Türkei befindet sich in einer politischen, sozialen und zunehmend wirtschaftlichen Krise. Der Keim der jüngsten politischen Krise wurde bereits mit dem Ergebnis der letzten Parlamentswahl am 7. Juni 2015 angelegt. Das Wahlergebnis (AKP: 40,9 %, CHP: 25 %, MHP: 16,3 %, HDP: 13,1 %) war insofern historisch, das es eine Zäsur für die seit 2002, also 13 Jahre, durchgängig regierende Erdogan-AKP darstellte. Und so wie es die Ironie der Geschichte wollte, repräsentiert sich die Zäsur in der linken HDP, die sich als Anwalt aller Minderheiten in der Türkei, insbesondere der Kurden versteht und an dessen – des HDP – breiten Akzeptanz in der türkischen Gesellschaft die Gezi-Proteste 2013 großen Anteil haben. Diese Zäsur ist nicht lediglich politisch zu verstehen, sie hat eine wesentlich soziale Dimension. Denn wie die AKP das Resultat eines sozialen Umbruchs von republikanischen Traditionen des Kemalismus war, der heute in einem materiellen, staatlichen, also politischen Umbruch mündet, so stellt der Erfolg der HDP auch einen sozialen Umbruch dar, dem es jedoch noch an materieller Macht zur Einleitung eines politischen Umbruchs fehlt. Beide Parteien, 2002 wie 2015, wurden „kurz“ vorher gegründet (AKP 2001, HDP 2012) und beide Parteien haben mit ihrer ersten Parlamentswahl einen beachtlichen, die politische Landschaft verschiebenden und die Gesellschaft in Bewegung setzenden Erfolg errungen. Dialektisch gesprochen, wenn man Parteien als organisierte Repräsentation unorganisierter Bevölkerungsklassen versteht: die sozialen Widersprüche in der türkischen Gesellschaft, d.h. arm, reich, bildungsarme anatolische Bauern, Arbeiter/innen, wohlsituiertes Bildungsbürgertum im Westen, ethnische Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus von Minderheiten, die weitgehend im Osten leben, etc., bewirken, dass das Land in ständiger Bewegung ist und nicht zur Ruhe kommen will. Wenn die AKP 2002 das Neue war, so beginnt die HDP das Neue zu werden, die als die bestehenden Verhältnisse negierende Partei auftritt. Das Wahlergebnis am 7. Juni 2015 hat Erdogan und die AKP überrascht. Schließlich muss die anschließende einwöchige, stillschweigende Zurückhaltung eines bis dato redseligen sultanischen Staatspräsidenten einen Grund gehabt haben. Das Kalkül Erdogans und der AKP wurde konterkariert, ausgerechnet von der HDP, von der man ausging, dass sie die 10%-Hürde, die auf die Militärputschisten der 1980er Jahre zurückgeht, nicht übersteigen werde und so die HDP-Parlamentssitze der stärksten Partei, d.h. der AKP, in die Arme fielen würden. Diese Zäsur hat ihren radikalen, reaktionären Ausdruck im Selbstmordattentat am 20. Juli 2015 in Suruc gefunden, wo 34 junge Sozialisten gestorben sind. Dass dergleichen passiert, war nur eine Frage der Zeit. Hier liegt der Wendepunkt des Kalküls Erdogans, die Neuformierung seiner Taktik, hier beginnt seine autoritäre Reaktion gegen Demokratie im Staat, Demokratisierung der Gesellschaft und Friedensprozess mit den Kurden, wobei das Erste bereits mit dem Bruch seiner EU-integrationswilligen Politik schloss, das Zweite zum aus seiner Sicht gefährlichem, unkalkulierbarem Selbstläufer wurde und die Beendigung des Dritten die unvermeidliche Konsequenz nach dem HDP-Erfolg war, um noch ein Präsidialsystem mit umfassenden Staatsvollmachten installieren zu können. Erdogan ist vor der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 gedanklich zwei Schritte vorgegangen und muss nun wieder zwei Schritte zurück, um – was er gegenwärtig zeigt – im großen Sprung drei Schritte nach vorne zu preschen. Sein Freimut avanciert zum sultanischen Hochmut. Auch der 2012 durch den türkischen Geheimdienst (MIT) eingeleitete Friedensprozess mit der Partei der militanten Kurden (PKK), womit sich Erdogan gerne als Friedensstifter gebrüstet hatte, lässt sich in sein fehlgeschlagenes bzw. neu formiertes Kalkül einordnen. Denn neben der Stammwählerschaft der AKP, konnte die AKP gleichsam die Gunst der kurdischen Bevölkerungskreise für sich gewinnen und dadurch hoffen, dass die Radikalisierung der Kurden abnehme. Erdogan nahm an, die Stimmen der Kurden für seine AKP gewinnen zu können und so der HDP einen vernichtenden Schlag zuzusetzen. Da dieser Coup nicht glückte, im Gegenteil die HDP über kurdische Wähler/innen hinweg auch im türkischen Westen Erfolge einfuhr, fand Erdogan mit Suruc einen willkommenen Anlass, die HDP politisch mundtot zu machen (Verleumdungen, Diffamierungskampagnen etc.) und einen weiteren Anlass zusammen zu spinnen - seit Monaten propagiert Erdogan die Intervention in Syrien -, um mit der Intervention in Syrien die militanten Kurden militärisch zu bekämpfen. (Suruc gab ihm auch Rückendeckung der Nato; doch wir bleiben bei unserer Absicht, nämlich bei der türkischen Innenpolitik!) Frei nach dem Motto: Ich habe dir ein Angebot gemacht, das du nicht ausschlagen kannst, und da du gegen meinen Willen mein Angebot ausgeschlagen hast, so mache ich Ernst mit der Unausschlagbarkeit und schieße. Im Grunde genommen war der Friedensprozess ein Spiel mit gezinkten Karten, um die AKP-Macht als absolute Staatsmacht weiter zu konsolidieren und zu intensivieren. Die HDP wird nun als Verschwörungspartei diskreditiert, die den türkischen Staat unterwandern und die PKK an die Staatsspitze katapultieren sollte (Eine schwachsinnige Phantasie, die bedauerlicherweise das patriotische Herz breiter, türkischer, vor allem ungebildeter Klassen schneller schlagen lässt.).
Das türkische Wirtschaftswunder der wirtschaftsliberalen AKP-Politik seit Ende 2009 hat die Friedensprozesse zunächst zur rechten Zeit flankiert und den Nährboden subversiver Kräfte, insb. solche der Linken geschmälert, indem armen Bevölkerungskreisen viel versprochen und ihnen süßer Honig um den Mund geschmiert wurde, nämlich so, dass sie nicht nur als Arbeiterinnen und Arbeiter, d.h. durch völlig ungesicherte (Soma, Bergwerk) und extrem geringbezahlte Arbeitsplätze (Bursa, Autoindustrie) Anteil am Wirtschaftswunder bekämen, sondern sich dies Wunder auch in ihren materiellen Standards durchschlagen würde. Doch das allgemeine Gesetz des Kapitals schlug zurück: die Konkurrenz. Mit erhöhter Nachfrage nach Arbeitskräften sind kurzzeitig die Löhne gestiegen, jetzt, wo das Maximum der benötigten Arbeitskräfte erreicht wurde, fiel die Nachfrage auf sein ursprüngliches Niveau zurück, sodass die Löhne fielen und sich zudem ein überflüssiger, dem Kapital nicht brauchbarer Teil von Arbeitskräften herausbildete (Seit 2012 steigt die Arbeitslosenquote, derzeit bei 11,43%). Auch der türkische BIP fällt seit 2013 kontinuierlich als allgemein zu beobachtendes Phänomen der sog. „Schwellenländer“, die die weltweite Wirtschaftskrise 2008 nunmehr zu spüren beginnen. Hinzu kommt, dass die türkische Lira zunehmend auf einen Tiefstand im Verhältnis zum Dollar und zum Euro bei gleichzeitig utraexpansiver Geldpolitik wesentlicher Akteure (Quantitative Easing; USA, EU, Japan, jetzt China etc.) fällt. Das bedeutet für ein Schwellenland wie die Türkei, dass die billigen Waren für das Ausland noch billiger werden (Hauptabnehmer ist Europa), also der Profit geringer, und die notwendigen ausländischen Produktionsmittel, also Maschinen etc. noch teurer werden, die für BIP, Arbeitsplätze und Aufschwung unentbehrlich sind, gleichwohl der extreme Ölpreisverfall, der dann oder wann wieder anheben wird, die krassen Folgen (noch) abfedert. Kurz, beim kontinuierlichen Fortlaufen solcher Entwicklungen, die durchaus durch die politische und soziale Krise potenziert werden können (Man denke an die Launen der Finanzmarktakteure!), wird die Türkei in eine wirtschaftliche Krise driften, die für die gegenwärtige Lage Dynamit bedeuten würde. Nun gut, gestern am 21. August
2015 hat der türkische Ministerpräsident Davutoglu sein Mandat für Koalitionsverhandlungen
dem Staatspräsidenten Erdogan zurückgegeben. Im Grunde genommen der Ausdruck
der Unfähig- und Unwilligkeit der AKP, Demokratie in Form und Inhalt in
der Türkei zu etablieren, zumal der Ausgang der Wahlen am 7. Juni 2015
eine Gelegenheit bot, zu zeigen, dass man durchaus ein demokratisches
Selbstverständnis habe. Diese Gelegenheit wurde in den Wind geschlagen.
Man hat ein anderes Selbstverständnis von politischer Macht; ein selbstherrliches
und autoritäres. Gestern hat Erdogan den nächsten Schritt seines korrigierten
Kalküls gemacht. Er hat deklariert, dass (vermutlich) am 1. November 2015
Neuwahlen stattfinden werden. Im Grunde genommen bleiben nun nur drei
Optionen: Da wir jedoch Realisten sind und Hoffnung nicht zum Repertoire politischer Analyse gehört, wird das Letzte (vorerst) eine Unmöglichkeit sein, gleichwohl täglich die türkischen, kurdischen, alevitischen etc. Söhne und Töchter der Türkei aufgrund der Unvernunft einer Partei und des Hochmuts eines Regenten sterben müssen.
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