deutschlandfunk.de, 23.08.2015

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Erdogans Kalkül geht fehl

Weil der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht damit leben, kann, dass die prokurdische HDP-Partei nun im Parlament sitzt, lasse er nichts unversucht, um Neuwahlen zu provozieren, kommentiert Cigdem Akyol. Dass ein erneuter Urnengang zu seinen Gunsten ausfallen wird, ist aber keineswegs sicher.

Von Cigdem Akyol

Es ist ein Ein-Mann-Krieg gegen das eigene Volk: Weil der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht akzeptieren kann, dass seine AKP-Partei bei den Parlamentswahlen am 7. Juni die Mehrheit verloren hat, schießen wieder Türken und Kurden aufeinander. Weil Erdoğan, schon jetzt der mächtigste türkische Politiker seit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, es einfach nicht erträgt, dass die prokurdische HDP-Partei mit ihrem Einzug ins Parlament seinen Traum eines Präsidialsystems vorerst zerstört hat, hat er den Friedensprozess mit den Kurden auf Eis gelegt.

Deswegen war es auch überhaupt keine Überraschung, als letzte Woche die Koalitionsgespräche mit allen drei Oppositionsparteien für gescheitert erklärt wurden. Denn Erdoğan will keine Koalitionsregierung, sondern eine Alleinregierung.

Erdoğan sagt, dass die Türkei praktisch schon ein neues politisches System habe. Schließlich sei er diesmal direkt vom Volk gewählt worden, nicht wie zuvor vom Parlament. Damit sei die Rolle des Präsidenten gestärkt. Und nun brauche die Türkei eine neue Verfassung, die die Veränderungen auch widerspiegele. Die Wähler, so sagte Erdoğan, sollten die Gelegenheit haben, den "Fehler" vom 7. Juni zu korrigieren - aber dass die Wähler womöglich weder die AKP-Alleinregierung noch ein Präsidialsystem wollen - das will Erdoğan nicht wahrhaben.

Denn vieles deutet darauf hin, dass bei Neuwahlen dieser vermeintliche "Fehler" nicht korrigiert wird. "Baris" - was übersetzt "Frieden" heißt, lautet das Schlagwort der letzten Wochen. Landesweit gehen die Menschen auf die Straßen, sie halten "Baris"-Plakate hoch. Die Mehrheit der Türken und Kurden verlangt danach, dass beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückkehren. Regierungskritische Journalisten schreiben gegen eine weitere Eskalation an, Intellektuelle veröffentlichen offene Briefe an die AKP, in denen sie fordern, den Dialog mit dem PKK-Chef Abdullah Öcalan aufrecht zu erhalten.

Mit Entsetzen schauen die Menschen in den Südosten des Landes, wo gerade der Ausnahmezustand herrscht. Wo in kurdischen Gebieten wie der Millionenmetropole Diyarbakir stundenweise das Internet, die Strom- und Wasserversorgung gekappt und Ausgangssperren verhängt werden, sich türkische Militärs und PKK-Rebellen schwere Gefechte liefern.

Wahlprognosen sehen AKP bei nur 39,2 Prozent

Mit nationalistischen Tönen aber heizt Erdoğan die Stimmung weiter an. So wohnte er am letzten Wochenende in der nordtürkischen Schwarzmeerstadt Trabzon der Beisetzung eines von PKK-Rebellen getöteten Soldaten bei, und kondolierte der Familie des Opfers mit den Worten: "Wir verabschieden uns von einem Märtyrer. Welch Glück für die Familie, welch Glück für all seine Angehörigen." Am Sarg des jungen Mannes versprach Erdogan, den Kampf gegen die PKK "bis zum jüngsten Tag" fortzusetzen. An anderer Stelle machte er die HDP und regierungskritischen Medien für die Gewaltspirale mitverantwortlich. Ein "Pack von Intellektuellen" und Zeitungskolumnisten, das "niedriger als Vieh" sei, beteilige sich am Verrat an der Nation.

Doch die Menschen durchschauen, dass das Staatsoberhaupt die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes riskiert. Lautstark fragen die Mütter umgekommener Soldaten, warum nicht Erdoğans zwei Söhne in diesen schmutzigen Krieg ziehen. Nicht zuletzt aber zeigen die jüngsten Umfrageergebnisse, dass die AKP auch bei Neuwahlen wieder keine absolute Mehrheit holen wird.

Laut dem renommierten Meinungsforschungsinstitut "Gezici" bekäme die AKP bei Neuwahlen sogar nur 39,2 Prozent der Stimmen - bei den Wahlen im Juni waren es knapp 41 Prozent. Die Umfrage zeigte auch, dass die HDP wieder den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen würde.

Nachdem Erdogan jetzt schon Krieg führt, um allein regieren zu können – bleibt es unausdenkbar, was er macht, wenn er erneut keine absolute Mehrheit bekommt. Wird dann so lange gewählt, bis ihm der Wählerwille passt? Zu befürchten steht, dass seine nächste innenpolitische Abrechnung die Türkei noch tiefer spaltet. Erdoğans Kalkül geht womöglich fehl – doch eine gute Nachricht ist auch das nicht.