Frankfurter Rundschau, 23.08.2015

Leitartikel zur Türkei

Wie Erdogan die Demokratie untergräbt

Von Frank Nordhausen

Mit seiner Gier nach Macht gefährdet der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Wohl seines Landes. Die Europäer scheinen die Gefahr zu unterschätzen, die von ihm ausgeht. Der Leitartikel.

Kein Nachrichtenfoto der vergangenen Tage illustriert den Zustand der Türkei besser als dieses: Rechts oben sieht man den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der am Grab eines getöteten Soldaten redet – und am linken unteren Bildrand hockt der Vater des Opfers tränenüberströmt, ohne aufzublicken. Das Bild sagt mehr als tausend Worte: Während die Türkei um tote Söhne im Krieg gegen die Kurdenguerilla PKK trauert, hält der Präsident an ihrem Grab Wahlkampfreden. Er spricht von Ehre, von Blut und Märtyrertod und davon, den Kampf „bis zum jüngsten Tag“ fortzusetzen. Aber viele Türken glauben: Es geht ihm nur um seinen eigenen Kopf. Um die Macht.

Deshalb auch will Erdogan Neuwahlen mitten in einem schmutzigen Krieg, angesichts ernster Wirtschaftsprobleme und eines massiven Verfalls der türkischen Lira. Es passt dem türkischen Präsidenten nicht, der so gern vom „nationalen Willen“ spricht, wie sich das Volk bei den Parlamentswahlen am 7. Juni entschied. Die Wähler stimmten gegen das von ihm angestrebte Präsidialsystem, verhalfen der prokurdischen Linkspartei HDP erstmals über die Zehnprozenthürde und entzogen so seiner regierenden islamisch-konservativen AKP die absolute Mehrheit. Doch alle Chancen einer Koalitionsregierung scheiterten letzte Woche – vor allem an Erdogan, der fest daran glaubt, dass die Bürger nicht wussten, was sie im Juni taten und ihren „Fehler“ bei einer neuen Wahl korrigieren würden. Wie er bereits die Verfassung verletzte, als er im Wahlkampf nicht unparteiisch blieb, sondern unentwegt für die AKP trommelte, so erkennt er auch die demokratische Wahl nicht an, weil er eigene Interessen über die seines Landes stellt.

Mögliche Koalition blockiert

Deshalb hatte der Präsident früh entschieden und oft verkündet, dass eine Koalition für das Land nicht in Frage komme, sondern nur eine Alleinregierung der AKP. Erst mit erheblicher Verspätung erteilte Erdogan dem AKP-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu den Auftrag, eine Regierungsbildung mit anderen Parteien zu versuchen, sabotierte aber dessen Bemühungen zugleich. Es gelang ihm nicht nur, einen Keil zwischen die Opposition zu treiben, die ihre 60-Prozent-Mehrheit im Parlament bislang kein einziges Mal zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Nach Angaben des Chefs der sozialdemokratischen CHP, Kemal Kilicdaroglu, wäre eine „große Koalition“ mit seiner Partei inhaltlich möglich gewesen, Davutoglu habe sie ernsthaft gewollt, doch Erdogan sie kompromisslos blockiert.

Warum tut er das? Erdogan weiß, dass eine Koalitionsregierung seine Macht stutzen und eine Wiederaufnahme der Korruptionsermittlungen gegen seine Familie einleiten würde. Auch deshalb erklärte er vor einer Woche, dass die Türkei bereits ein neues politisches System habe und es für dessen Anerkennung nur noch einer Änderung der Verfassung bedürfe. De facto sei er bereits ein Präsident mit exekutiven Befugnissen. Zu Recht nannte die Opposition dies einen „kalten Putsch“ – doch ihren Klagen folgten wie immer keine Taten. Wie stets nutzte der Präsident ihre Schwäche gnadenlos aus. Immer klarer wird, dass es ihm einzig um den Machterhalt geht, für den er bereit ist, bis an die Grenzen des Legalen und darüber hinaus zu gehen.

Mehrheit wünscht sich Friedensgespräche

Nur so ist auch zu erklären, warum er sein wichtigstes innenpolitisches Projekt, die Aussöhnung mit den Kurden, vor vier Wochen aufkündigte. Nun wird im Südosten des Landes wieder geschossen und gestorben. Viele Beobachter vermuten, dass Erdogan absichtlich polarisiert und die nationalistische Karte spielt, um den Ruf nach ihm als „starkem Mann“ zu befeuern. Misst man ihn daran, so steht zu befürchten, dass er noch weiter gehen wird, wenn er seine Macht im Kern bedroht sieht. „Ich kenne meine Vollmachten als Präsident“, sagte er kürzlich mit drohendem Unterton, „und ich werde meine Vollmachten bis zum Letzten ausnutzen.“

Neuere Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Türken die Fortsetzung der Friedensgespräche mit der PKK wünscht. Sie zeigen auch, dass die AKP weiter Stimmen verliert. An den Gräbern der toten Soldaten sind „AKP-Mörder“-Rufe zu hören. Klar scheint, dass nur wer auf Frieden und Aussöhnung setzt, die Neuwahlen gewinnen wird. Viele Türken stellen sich deshalb die Frage: Wird Erdogan seine Machtbefugnisse ausreizen und womöglich das Kriegsrecht ausrufen, das es ihm erlaubt, mit Notverordnungen zu regieren? Das gezähmte Militär würde sich wohl nicht gegen ihn stellen. Besorgte Stimmen warnen bereits vor der Spaltung des Landes.

In Europa scheint kaum jemand wahrzunehmen, dass nach der Ukraine ein weiterer Nachbarstaat im Begriff ist, in Chaos und Krieg abzugleiten. Die Juni-Wahl hat bewiesen, dass man die Türkei nicht mit Erdogan und der AKP gleichsetzen darf. Es gibt eine starke demokratische Tradition und eine wache Zivilgesellschaft. Deshalb muss der Schutz der Demokratie und des parlamentarischen Systems, muss die Unterstützung der demokratischen Kräfte in der Türkei auf der politischen Prioritätenliste des Westens nach oben rutschen.

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