Süddeutsche Zeitung, 31.08.2015 Lockruf der Macht Ein ungewöhnliches Übergangskabinett regiert die Türkei bis zur Neuwahl: Die AKP ist vertreten, die HDP, ein Überläufer und die erste Ministerin mit Kopftuch. Von Mike Szymanski Das kommt also dabei heraus, wenn Koalitionsgespräche in der Türkei scheitern: die wohl ungewöhnlichste Übergangsregierung, die die Bürger je gesehen haben. Draußen im Land führt die AKP, die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, mit Kampfjets und Sondereinheiten der Polizei Krieg gegen Kurden. Hunderte Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sind gestorben. Und in der Regierung tragen zwei Politiker der pro-kurdischen Partei HDP, der parlamentarischen Vertretung, an der Seite der AKP auf höchsten Posten Verantwortung für dieses Land: Ali Haydar Konca, 65, ist Übergangs-Europaminister. Als Entwicklungsminister auf Zeit hat Müslüm Doğan, 55, das Wort. Wenn die Waffen in diesen Tagen schweigen würden, dann könnte dieses Kabinett ein Ausblick in eine wohlmeinende Zukunft sein. Eine, in der der Kurdenkonflikt gelöst und Normalität im Land eingekehrt ist. Aber diese Übergangsregierung hat ein Verfallsdatum. Am 1. November wählen die Türken ein neues Parlament. Bei der Wahl am 7. Juni hatte
die alleinregierende AKP von Erdoğan die absolute Mehrheit verloren. Die
wochenlangen Gespräche über eine Koalitionsregierung scheiterten, weil
Erdoğan nie wirklich die Macht teilen wollte. Aber auch die Opposition
hatte sich früh verbarrikadiert: Die HDP, die mit 13 Prozent überraschend
stark den Einzug ins Parlament geschafft hat, schloss vor der Wahl ein
Bündnis mit der AKP kategorisch aus. Die Ultranationalisten von der MHP
wollten von Anfang an neu wählen. Nur die säkulare CHP, die größte Oppositionspartei,
zeigte ernsthaften Willen, zu regieren: mit oder auch ohne AKP. Ihr erteilte
Erdoğan aber nicht einmal das Verhandlungsmandat, das ihr zugestanden
hätte, nachdem die AKP keine Koalition bilden konnte. Die türkische Verfassung hat Regeln für die Bildung der Übergangsregierung bis zur Wahl. Sie kommen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zum Tragen. Nicht zu rütteln war am Grundsatz, dass alle im Parlament vertretenen Partei Anspruch haben, entsprechend ihrer Größe beteiligt zu werden - also auch die HDP. Auch wenn die Lebensdauer kurz ist - diese Regierung wird einige Schlüsselentscheidungen treffen müssen: Das Mandat für den Kampf gegen den IS in Syrien läuft im Oktober aus. Außerdem muss der Haushalt für 2016 vorbereitet werden. HDP-Chef Selahattin Demirtaş sah milde darüber hinweg, dass sich Übergangspremier und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu die HDP-Kandidaten für die drei Ministerposten, die den Kurden zustehen, selbst auswählte. Einer sagte ab, zwei zu. Europaminister Konca verzichtete gleich mal auf seinen Dienstwagen, um sich von den zuletzt arg verschwendungssüchtigen AKP-Politikern abzusetzen. Die CHP verweigerte sich aus Protest über das Gebaren der AKP komplett dieser Regierung - sie stellt auf eigenen Wunsch keinen Minister. Die Ultranationalisten von der MHP wollten auch so vorgehen. Aber ausgerechnet der Sohn ihres Gründers, Tuğrul Türkeş, konnte dem Lockruf der Macht nicht widerstehen. Entgegen der Parteilinie ließ er sich in das Kabinett berufen und wurde von Davutoğlu prompt zum Vize-Premier befördert. Dies wiederum sorgte in der MHP für erhebliche Verwerfungen und im Lager der AKP für Freude. Die regierungsnahen Zeitungen werteten Türkeş' Überlaufen als wahrhaft vaterländische Tat. Die Personalie könnte der AKP bei der kommenden Wahl dienen, als Symbol: Auch den Nationalisten kann die AKP eine Heimat bieten. Bei der letzten Wahl hatten viele die AKP verschmäht und der MHP mit ihrer Stimme zu einem kleinen Aufschwung verholfen. Demirtaş rechtfertigte den Machtwillen seiner HDP damit, dass man nur verhindern wolle, dass sich die AKP schon wieder den gesamten Regierungsapparat unter den Nagel reiße. Das ist der AKP dennoch zu einem großen Teil gelungen. Alle nicht von der Opposition beanspruchten Posten - elf an der Zahl - konnte Davutoğlu an "Unabhängige" verteilen - wie zum Beispiel Ayşe Gürcan, 52. Sie ist die erste Ministerin mit Kopftuch, nun zuständig für Familienpolitik. Wie die AKP sich das wünscht, vertritt sie die Position, dass Familien drei Kinder haben sollten. Die erste gesellschaftspolitische Debatte hat sie auch schon losgetreten: Per Internet teilte sie mit, dass eine türkische Familie kaputt sei, wenn die Frau keinen Börek mehr zubereiten könne. Es gibt aber auch einen Bruch in ihrem Leben, der nicht so recht ins Familienbild dieser Partei passt. Nach Informationen türkischer Medien ist Gürcan geschieden. Sie hat als Wissenschaftlerin an einer kleineren Istanbuler Universität gearbeitet und sich mit Erziehungs- und Bildungsfragen beschäftigt. Sie unterhält Kontakte zur einer Stiftung, die von Erdoğans Familie betrieben wird. Kurz nach ihrer Berufung zur Ministerin verschwanden angeblich von ihrem Twitter-Konto Einträge, in denen sie die Scharia, das islamische Recht, als Menschenrecht verteidigt. Davutoğlu adelte seine neuen Mannschaft als eine Regierung, die nicht bloß Zeit zu überbrücken habe, sondern regieren werde, ganz so, als hätte sie eine reguläre Amtszeit vor sich. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-lockruf-der-macht-1.2628512
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