Frankfurter Rundschau, 03.09.2015

Aylan Kurdi

Aus Kobane in den Tod

Von Frank Nordhausen

Kanada verweigert ihnen wegen fehlender Pässe ein Visum, da wagt die Famlie des dreijährigen Aylan Kurdi die Flucht übers Mittelmeer. Jetzt sind alle bis auf den Vater tot. "Die Welt muss sich schämen", titelt eine türkische Zeitung.

Es geht seit Mittwoch um die Welt, das Bild eines auf der Flucht nach Griechenland ertrunkenen syrischen Jungen am Strand der türkischen Touristenmetropole Bodrum. In der Türkei hoben fast alle türkischen Tageszeitungen das Foto des toten Aylan Kurdi am Donnerstag auf ihre Titelseiten – ein Bild, das zum Symbol für das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik werden könnte. „Es erschüttert die Welt“, „Die Welt muss sich schämen“, „Die Menschlichkeit weggespült“, lauteten einige Schlagzeilen, die eindrücklichste lieferte das Boulevardblatt Posta: „Diese Welt sollte untergehen!“

In den sozialen Internetmedien des Landes wurde kein Thema häufiger behandelt als der Tod des dreijährigen Jungen und seiner Familie am Strand von Bodrum, einem der bekanntesten Ferienziele der Türkei. Tausende Male wurde das Foto von Aylan inzwischen auf Twitter unter dem türkischen Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik geteilt – „die fortgespülte Menschlichkeit“.

Aylan kommt aus Kobane

Schnell wurde Aylan Kurdis traurige Geschichte bekannt, die von Krieg, Hoffnungslosigkeit und Flucht handelt. Die Kurdis stammen aus der syrisch-kurdischen Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei, die im vergangenen Jahr von der Terrormiliz Islamischer Staat belagert und dabei fast völlig zerstört wurde. Zwar konnten die kurdischen Kämpfer Kobane mithilfe amerikanischer Luftunterstützung im Januar wieder zurückerobern, doch gleicht die Stadt mit ihren ehemals 100.000 Einwohnern noch immer einem Trümmerfeld. Da Spenden fehlen und die Türkei Hilfsgütertransporte häufig behindert, geht der Wiederaufbau kaum voran, nur rund die Hälfte der ehemaligen Bürger sind nach Angaben kurdischer Hilfsorganisationen bislang zurückgekehrt. Sie fühlen sich nicht sicher, da die Dschihadisten immer wieder versuchen, Kobane zu attackieren, und weil sie glauben, dass die Türken den IS dabei gewähren lassen.

Aylan Kurdi wurde vor drei Jahren geboren, als die Enklave Kobane bereits unter einem erdrückenden Versorgungsembargo seitens der Türkei und sporadischen Angriffen islamistischer Milizen litt. Der Junge ist ein Kriegskind, das davon träumte, einmal Fußballer zu werden. Als der IS Kobane im vergangenen Oktober angriff, flüchtete die Familie über die Grenze in die Türkei, die so viele Flüchtlinge wie kein anderes Land weltweit aufgenommen hat, darunter inzwischen mehr als zwei Millionen Syrer. Sie leben oft unter ärmlichsten Umständen, denn das Schwellenland Türkei ist längst an seiner Aufnahmegrenze angelangt. Dort sahen die Kurdis ebenso wenig eine Zukunft für sich wie in der zerstörten Heimat. Doch Vater Abdullah Kurdi, seine Frau Rehan, der dreijährige Aylan und der zwei Jahre ältere Galip hatten vergeblich versucht, ein Visum für Kanada zu erhalten, berichtete seine in Vancouver lebende Schwester Tima Kurdi kanadischen Medien.

23 Personen waren sie nach Angaben türkischer Medien, als die syrischen Kurden schließlich in der türkischen Stadt Bodrum zwei winzige, total überladene Boote bestiegen, um die nur knapp fünf Kilometer entfernte griechische Insel Kos zu erreichen. Die türkischen Schlepper nehmen 1000 Euro pro Person für die Überfahrt, rettende Schwimmwesten sind in vielen Küstenorten seit Wochen ausverkauft. Wer das Geld nicht hat, borgt es sich bei Angehörigen und Freunden. „Zehntausende Flüchtlinge strömen jetzt an die Mittelmeerküste, um die Passage nach Europa zu schaffen, bevor die Herbststürme einsetzen“, sagt der Journalist Özcan Sert vom Online-Nachrichtenmagazin T24 in Istanbul, der die Flüchtlingsbewegungen über die Türkei seit den 1980er-Jahren beobachtet.

Nur der Vater überlebt

Das Boot mit den Kurdis sank am Mittwochmorgen auf dem Weg nach Kos. Nur die Hälfte der Menschen schaffte es zurück an Land. Mindestens elf tote Flüchtlinge barg die türkische Küstenwache. Von Familie Kurdi überlebte nur Vater Abdullah. Seine Schwester Tima erzählte dem kanadischen Online-Nachrichtendienst ottawacitizen.com, dass ihr Bruder aus Bodrum bei den Verwandten in Vancouver anrief. „Alles, was er sagte, ist: Meine Frau und meine beiden Jungen sind tot“, berichtete sie. Tima Kurdi wanderte vor 20 Jahren nach Vancouver aus, wo sie als Friseurin arbeitet. Sie bezahlte die Miete für die Verwandten in der Türkei und bot an, in Vancouver für die Flüchtlinge zu bürgen, doch die kanadischen Behörden ließen sich nicht darauf ein, weil die Kurdis beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR wegen fehlender Pässe nicht als Flüchtlinge registriert waren - und die türkische Regierung ihnen deshalb keine Ausreisevisa ausstellte. Aus diesem Grund versuchte ihr Bruder mit seiner Familie, über Europa nach Kanada zu gelangen. Abdullah Kurdi will seine Frau und die beiden Jungen jetzt in Kobane beerdigen.

Hilfsorganisationen schätzen, dass allein im August pro Tag rund 2000 Menschen versuchten, die relativ kurzen Meerpassagen zwischen dem türkischem Festland und den griechischen Inseln zu überwinden. Die türkische Küstenwache spricht von mehr als 40.000 Flüchtlingen, die sie in diesem Jahr bereits aus dem Mittelmeer gerettet habe. Allein im Juli erreichten mehr als 50.000 Menschen Griechenland, verglichen mit 43.000 im gesamten letzten Jahr. Die meisten wollen dort nicht bleiben, sondern versuchen über die sogenannte Westbalkan-Route Mittel- und Nordeuropa zu erreichen. Fast täglich werden derzeit Leichen an die türkischen Strände gespült.

Die Türkei ist überfordert

„Die Regierung sagt zu Recht, dass sie nicht die gesamte Küste überwachen kann“, sagt der türkische Journalist Özcan Sert. Das Problem sei auch entstanden, weil Griechenland und Bulgarien den Landweg in die EU weitgehend dicht gemacht hätten. Auch sei die Türkei mit den wachsenden Flüchtlingsströmen schlicht überfordert. „Viele Flüchtlinge wollen nicht hierbleiben, weil sie keine Arbeit finden und keinen offiziellen Asylstatus bekommen, mit dem sie Visa für andere Länder beantragen könnten.“

Neben dem traurigen Schicksal von Aylan Kurdi und seiner Familie beschäftigt ein weiterer syrischer Flüchtlingsjunge die Nutzer sozialer Medien in der Türkei. Der 13-Jährige, der mit seiner Familie in Budapest gestrandet ist, sagte dem US-Fernsehsender CNN am Mittwoch, die Syrer würden nicht fliehen, wenn es in ihrer Heimat keinen Krieg gäbe: „Stoppt einfach den Krieg und wir kommen nicht nach Europa.“ Seine Aussage, der wohl wenig hinzuzufügen ist, verbreitet sich seit Mittwoch in Windeseile über Twitter und Facebook.

Im gleichen Sinne kommentierte der Chefredakteur der englischsprachigen Hürriyet Daily News, Murat Yetkin, dass die EU durch die Flüchtlingswelle nicht in erster Linie sicherheitstechnisch, sondern vor allem politisch gefordert sei, denn diese sei erst der Anfang viel größerer zukünftiger Flüchtlingsströme. „Maßnahmen wie Lager außerhalb der EU werden eine Lösung kein Stück näher bringen – vor allem nicht der Bürgerkriege, des Terrorismus und aller damit verbundenen ökonomischen Probleme, die Länder wie Syrien, Irak, Libyen, Jemen erschüttern. Wenn Europa die Konsequenzen der Krise nicht erst angehen will, wenn es zu spät ist, hat es eine Verantwortung, zu einer Lösung der politischen Probleme an deren Ursprung beizutragen.“
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