junge Welt, 08.09.2015

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Gegen den Staat

Türkei: Die Stadt Gever widersetzt sich dem Terror des Erdogan-Regimes

Von Tim Krüger und Anselm Schindler/Gever

Die Straßen von Gever (türkisch: Yüksekova) im äußersten Südosten der Türkei zeugen von den Gefechten zwischen den Truppen des türkischen Staats und den Selbstverteidigungskräften der überwiegend kurdischen Bevölkerung. Patronenhülsen liegen auf den Gehwegen verstreut, an manchen Stellen klebt Blut auf den Pflastersteinen. Seit einigen Tagen ist es wieder ruhiger in Gever. In den vielen kleinen Läden und vor den Teehäusern tummeln sich die Menschen. Doch sobald die Sonne untergeht, kreisen Hubschrauber über der Stadt, und es fallen Schüsse. Das Zentrum befindet sich unter Kontrolle des türkischen Staats, in den Seitenstraßen türmen sich die Barrikaden. Errichtet wurden sie in den vergangenen Wochen von der Bevölkerung. Als das Militär in die Stadtteile einrücken wollte, rissen die Einwohner Pflastersteine aus den Straßen, um Schutzwälle zu errichten. In einigen Barrikaden sind Sprengsätze versteckt, die oft auf einfachste Weise aus Gaskartuschen hergestellt werden. Sie sind das letzte Mittel der Verteidigung gegen anrückende Panzerfahrzeuge. »Panser« nennen die Menschen in der Stadt das Kriegsgerät, in Anlehnung an das deutsche Wort. Denn viele der Waffen stammen aus deutschen Fabriken. »Mit euren Fahrzeugen bringen sie uns hier um«, schimpft ein junger Mann und deutet in eine Seitenstraße, in der sich die türkische Polizei und das Militär in Stellung gebracht haben. Die Läufe ihrer Geschütze sind auf die belebte Hauptstraße gerichtet.

Nach den vergangenen Parlamentswahlen, in denen die islamisch-konservative AKP deutlich an Stimmen eingebüßt hatte, kündigte der Staat den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK auf. In den überwiegend von Kurden bewohnten Städten im Südosten der Türkei ging Ankara zum Angriff auf die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen über. Tausende Menschen wurden im Zuge dessen inhaftiert. Während Staatspräsident Recep Tayip Erdogan in den Medien vermeintlich erfolgreiche Luftangriffe auf PKK-Stellungen feiern ließ, trafen die Bomben und Granaten vor allem Zivilisten. Aufgrund der Angriffe erklärte die Bevölkerung in vielen kurdischen Städten ihre Unabhängigkeit vom türkischen Staat. Die basisdemokratischen Volksräte, die schon seit Jahren aus dem Untergrund heraus politische Strukturen aufgebaut hatten, übernahmen die Verwaltung. Inmitten des wiederaufflammenden Bürgerkriegs wolle die Bevölkerung »die Ideale der kurdischen Befreiungsbewegung umsetzen«, sagte eine junge Frau, die Mitglied einer aufständischen Jugendorganisation ist, im Gespräch mit jW.

Die vermeintliche Ruhe in der Stadt wirkt erdrückend, es herrscht eine Art Belagerungszustand. Erst vor drei Tagen schallten laute Rufe durch die Straßen: »Sehid namirin!« – »Die Märtyrer sind unsterblich!« Tausende Menschen erwiesen Ali Kaval die letzte Ehre. Der junge Mann war den Kugeln der türkischen Polizei in der Nacht zum 1. September zum Opfer gefallen, dem internationalen Weltfriedenstag. Vier Kugeln trafen ihn in Beine, Brust und Kopf. Die Szenerie glich einer Hinrichtung, wie Augenzeugen berichteten. Bewaffnet war er nicht, die Schüsse trafen ihn aus einem Militärfahrzeug. Er war nicht der einzige Zivilist, der starb: Neun Menschen wurden in den vergangenen Tagen von türkischen Sicherheitskräften getötet, manche von ihnen im Schlaf. Regelmäßig ziehen Beerdigungsprozessionen durch die Straßen, die Menschen schreien sich die Wut aus dem Bauch, unzählige PKK-Fahnen flattern im Wind. »Europa muss endlich handeln«, fordert die Mutter eines der Gefallenen. Aus Europa kommt zwar immer wieder Kritik an Staatschef Erdogan. Aber viele Medien übernehmen die Sichtweise türkischer staatlicher Presseorgane. So wird beispielsweise behauptet, dass die Granaten, die in den vergangenen Wochen in Gever einschlugen, von der PKK abgefeuert worden seien. Doch fragt man die Menschen, deren Häuser zerstört wurden, hört man etwas ganz anderes: »Der Beschuss kam aus einem 15 Kilometer entfernten Militärstützpunkt«, erklärt der Bewohner eines völlig ausgebrannten Hauses. Die linke, kurdisch-türkische Demokratische Partei der Völker (HDP) bezeichnet das, was in Gever und anderswo passiert, inzwischen als Kriegsverbrechen.