Frankfurter Rundschau, 07.09.2015

Die Lage spitzt sich zu

Von Frank Nordhausen

Während die PKK einen Militärkonvoi attackiert und mehrere Soldaten tötet, gehen die Anhänger der Erdogan-Partei AKP auf das Redaktionshaus der Hürriyet in Istanbul los. Und die Gewaltspirale dreht sich weiter.

Die Lage im kurdischen Südosten der Türkei gerät teilweise außer Kontrolle. Bei einem schweren Angriff der kurdischen Untergrundorganisation PKK auf einen Militärkonvoi in der abgelegenen Provinz Hakkari wurden am Sonntag mindestens 15 Soldaten getötet und zahlreiche weitere verletzt. In einigen Städten wurden Ausgangssperren verhängt, die 100 000-Einwohner-Stadt Cizre wurde am Sonntag vom Militär abgeriegelt und durchkämmt. Dabei lieferten sich Sicherheitskräfte und Anhänger der PKK schwere Gefechte, bei denen nach Angaben kurdischer Quellen mindestens sieben Zivilisten ums Leben kamen. Wegen der anhaltenden Kämpfe wurden am Sonntag auch die Grenzübergänge der Türkei zum Autonomen Region Kurdistan des Nordiraks gesperrt, was zu kilometerlangen Staus führte. Über den Nordirak verläuft der wichtigste Landweg für türkische Exporte in den Nahen Osten.

Der Anschlag auf den Militärkonvoi nahe dem Ort Daglica war der schwerste Angriff der PKK-Guerilla seit 2011. Am Montagnachmittag gab der türkische Generalstab bekannt, dass 16 Soldaten getötet und sechs verwundet wurden, nachdem zwei gepanzerte Militärfahrzeuge auf Minen gefahren waren. Anschließend hätten sich Soldaten und PKK-Kämpfer schwere Gefechte geliefert. Die Attacke markiert den bisherigen Höhepunkt der eskalierenden Gewalt seit dem Ende eines zweijährigen Waffenstillstands und der Aufkündigung von Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK Ende Juli. Seither starben nach Armeeangaben rund 100 Sicherheitskräfte und bis zu 1000 Aufständische.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sagte der Agentur Anadolu zufolge, die Antwort des Militärs auf den Anschlag werde „sehr gezielt und entschlossen“ ausfallen. Tatsächlich reagierte die Armee mit Luftangriffen auf mindestens 13 PKK-Ziele in der Türkei und in den nordirakischen Kandil-Bergen, in denen die PKK ihr Hauptquartier unterhält. Doch es ist fraglich, wie erfolgreich diese Maßnahmen sein können, denn die Regierung hat bisher keine Antwort auf eine fundamental geänderte Strategie der Rebellenmiliz gefunden. Hatte die PKK in dem dreißigjährigen Bürgerkrieg mit mehr als 40.000 Toten vor allem in den unwegsamen Bergen agiert, so konzentriert sie sich jetzt auf die Städte im türkischen Südosten. Die Bevölkerung dort ist jung, viele junge Männer sind arbeitslos, vermutlich Tausende haben sich während der Waffenruhe der PKK-Jugendorganisation „Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung“ (YDG-H) angeschlossen.

Die YDG-H hat nach einem am Wochenende publik gewordenen Polizeireport professionelle Strukturen ähnlich der staatlichen Polizei und mit eigenem „Geheimdienst“ aufgebaut und beansprucht das Gewaltmonopol in mehr als einem Dutzend Städten und Stadtvierteln, in denen die PKK eine „Selbstverwaltung“ ausgerufen hat. Anstatt das Militär anzugreifen, ermordet sie jetzt vor allem Polizeibeamte, die viel schlechter als Soldaten geschützt sind. Die PKK-Führung in Kandil hat in Interviews kürzlich zudem mehrfach darauf hingewiesen, dass sie den eigentlichen Kampf bisher noch gar nicht begonnen habe – Äußerungen, die türkische Kommentatoren als Hinweis verstehen, dass die Guerilla ihre derzeitigen Attacken eher als Demonstration ihrer Stärke als Ausgangsbasis für neue Friedensverhandlungen versteht.

Da der Staat aber kein Einlenken erkennen lässt, sondern weiter an der Gewaltspirale dreht, befürchten politische Beobachter, dass sich das türkische Kurdengebiet allmählich in eine Kriegszone wie Syrien verwandeln könnte, der irgendwann die Abspaltung von der Türkei drohen würde. Teile der Region wurden bereits zu militärischen Sicherheitszonen erklärt. In der PKK-Hochburg Yüksekova wurde die niederländische Journalistin Frederike Geerdink am Sonnabend ohne Angabe stichhaltiger Gründe verhaftet. Angesichts der Tatsache, dass anders als früher inzwischen auch in der Westtürkei Millionen von Kurden leben, ist ein Überspringen des Konflikts auf die großen Metropolen wie Istanbul oder Adana zu befürchten, zumal die Stimmung im Land wegen der vorgezogenen Neuwahlen am 1. November ohnehin angespannt ist.

Einen gewaltsamen Zwischenfall gab es in der Nacht zu Montag bereits in Istanbul, als rund 150 Anhänger der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP das Redaktionshaus der bedeutendsten seriösen türkischen Zeitung Hürriyet im Stadtteil Bagcilar mit Steinen bewarfen und zu stürmen versuchten, bis Sondereinsatzkräfte der Polizei sie auseinandertrieben. Grund für die Randale war eine Twitter-Meldung der Zeitung über eine Äußerung von Präsident Erdogan in einem Live-Interview im Fernsehen. Dort hatte er über die Gewalteskalation im Südosten gesagt: „Wenn eine Partei 400 Sitze bei den Wahlen bekommen hätte und die erforderliche Stimmenzahl im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage anders.“

Oppositionelle Twitter-Nutzer interpretierten dies als Eingeständnis Erdogans, dass der Bombenkrieg gegen die PKK seine Vergeltung für die Abwendung der kurdischen Wähler von der AKP bei den Parlamentswahlen im Juni sei. Als daraufhin eine wütende Twitterkampagne von AKP-Mitgliedern gegen Hürriyet begann, löschte Hürriyet den Tweet, wurde aber dennoch angegriffen. Erdogan hatte der Zeitung und ihrem Eigentümer Dogan-Holding mehrfach Konsequenzen wegen ihrer kritischen Berichterstattung angedroht.
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