welt.de, 08.09.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article146168334/Die-Tuerkei-droht-in-Gewalt-und-Hass-zu-versinken.html

Krieg mit PKK

Die Türkei droht in Gewalt und Hass zu versinken

Nach den verheerenden Anschlägen auf Sicherheitskräfte droht die Türkei in Gewalt zu versinken. Der Staat gegen die PKK, Türken gegen Kurden. Das kurdische Cizre leidet seit Tagen unter den Kämpfen. Von Deniz Yücel

Die Türkei wird von Gewalt erschüttert. Die Leichen der 16 Soldaten, die am Sonntag in der Daglica-Region durch eine Sprengfalle der PKK ums Leben gekommen waren, sind noch nicht bestattet, als das Land die nächste Horrormeldung ereilt: Am Übergang Dilucu, dem östlichsten Zipfel der Türkei (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) an der Grenze zu Aserbaidschan, wurden am Dienstagmorgen mindestens 13 Polizisten getötet, die mit ihrem Fahrzeug in eine Sprengfalle geraten waren. Einer der Toten ist ehemaliger Bodyguard des ehemaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül.

Seit dem Terroranschlag von Suruc Mitte Juli und dem Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen der PKK (Link: http://www.welt.de/themen/pkk/) und dem türkischen Staat sind über hundert Sicherheitskräfte, etwa genau so viele Zivilisten und eine nicht überprüfbare Zahl von PKK-Kämpfern gestorben.

Nach dem Anschlag von Sonntag droht die ohnehin angespannte Stimmung zu einer Auseinandersetzung zwischen nationalistischen Türken und Kurden umzuschlagen. Landauf, landab kam es am Montagabend zu Demonstrationen. Die meisten blieben friedlich, doch im Anschluss kam es in mindestens neun Orten zu Übergriffen auf Büros der prokurdisch-linken Demokratischen Partei der Völker (HDP). Besonders bedrohlich war die Situation in der südwesttürkischen Provinzhauptstadt Isparta, wo aus einer Menge von 500 Leuten das Gebäude in Brand gesetzt wurde. Vielerorts verhinderte die Polizei Schlimmeres.

Bei den meisten Demonstranten dürfte es sich um Anhänger der rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) handeln – oder auch der islamisch-konservativen AKP. Obwohl Politiker der HDP immer wieder die PKK dazu aufgerufen haben, die Waffen niederzulegen, machen nicht nur die Nationalisten die HDP für den PKK-Terror verantwortlich. So erschien am Dienstag die AKP-nahe Tageszeitung "Yeni Safak" mit dem Bild des HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas (Link: http://www.welt.de/143993396) auf der Titelseite. "Mörder" stand in großen Lettern darüber.

Übergriffe auf Parteigebäude und Zeitungen

Und der Zorn richtet sich nicht allein gegen die HDP. In Beypazari in der Provinz Ankara zog ein Mob in ein mehrheitlich von Kurden bewohntes Wohnviertel und griff dort Wohnhäuser, Geschäfte und Fahrzeuge an, türkische Medien berichten von "Lynchstimmung", es kam zu Straßenschlachten zwischen den Angreifern und den Bewohnern des Viertels. In der südtürkischen Touristenmetropole Antalya wurden Fernbusse ins kurdische Diyarbakir mit Steinen angegriffen, weshalb am Mittwoch sieben Busunternehmen aus Diyarbakir aus Protest den Fahrbetrieb für einen Tag einstellen wollen. Und im Istanbuler Stadtteil Kagithane wurde der 21-jährige Sedat Akbas an einer Bushaltestelle erstochen. Der Grund: Er hatte sich am Telefon auf Kurdisch unterhalten, wie die linke Tageszeitung "Evrensel" berichtet.

Allerdings gibt es auch Trauer, die nicht in Hass und Gewalt umschlägt. In den Urlaubszentren Marmaris und Bodrum, das die größte Freiluftdiskothek der Welt beherbergt, beschlossen die Besitzer von Bars und Nachtclubs, aus Pietätsgründen ihre Läden für drei Tage zu schließen. Zusätzlich angeheizt wird die Stimmung durch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der am Sonntagabend in einem Live-Interview mit zwei AKP-nahen Sendern sagte: "Wenn eine Partei bei der Wahl 400 Sitze bekommen und die erforderliche Stimmenzahl im Parlament für eine Verfassungsänderung erreicht hätte, wäre die Lage jetzt anders."

Unmittelbar zuvor hatte er die Anschläge von Suruc (Link: http://www.welt.de/144244298) Mitte Juli und auf die HDP-Kundgebung in Diyarbakir (Link: http://www.welt.de/142043664) Anfang Juni erwähnt. Die Tageszeitung "Hürriyet" brachte in einem inzwischen gelöschten Tweet dieses Zitat in direkten Zusammenhang mit dem Anschlag auf die Soldaten, woraufhin knapp 200 AKP-Anhänger vor der Zentrale der Zeitung in Istanbul versuchten, mit Gewalt ins Gebäude einzudringen. Angeführt wurde die Menge von Abdurrahim Boynukalin, Abgeordneter und Vorsitzender des AKP-Jugendverbandes. "Egal, was bei den Wahlen am 1. November passiert, wir werden dich zum Präsidenten machen", rief er vor laufenden Kameras. Er meinte Erdogan.

Unterdessen sind die Hintergründe des Anschlags in Daglica noch immer unklar. Regierung und Armee stehen wegen ihrer Informationspolitik in der Kritik. So ereignete sich der Anschlag bereits am Sonntagnachmittag, bekannt gegeben wurde die Nachricht aber erst am späten Abend. Und bis zur ersten Stellungnahme des Generalstabes vergingen 26 Stunden.

Kurdenpolitiker birgt Leichen von Soldaten

Am Montag hieß es zunächst, dass die Armee im Gebiet Daglica eine großflächige Militäroperation gestartet habe, sich die Bergung der getöteten Soldaten aber aufgrund der Wetterlage verzögere. Später sagte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, die Leichen seien von Spezialkräften geborgen worden. Am Montagabend wurde bekannt, dass es in Wahrheit eine Gruppe von Zivilisten um den ehemaligen HDP-Abgeordneten Esat Canan war. Videoaufnahmen zeigen, wie die Gruppe bei strahlendem Sonnenschein die Leichen aus den Fahrzeugen holt.

Das lässt viele zweifeln, ob die Armee die Region tatsächlich so unter Kontrolle hatte, wie sie behauptet. Zudem gibt es Gerüchte, dass die tatsächliche Opferzahl größer sei. Die schwer zugängliche Bergregion Daglica in der Provinz Hakkari im äußersten Südosten der Türkei gilt als wichtiges Durchzugsgebiet für PKK-Kämpfer zwischen ihren Lagern im Nordirak und der Türkei.

Womöglich hat sich die Lage dort inzwischen geändert. Am Dienstag meldete die türkische Armee, dass Sondereinheiten die am Anschlag beteiligten PKK-Kämpfer über die Grenze in den Irak verfolgen würden. Das wäre der erste grenzüberschreitende Einsatz von Bodentruppen seit mehreren Jahren. Unbestätigten Meldungen der Armee zufolge sollen in den vergangenen zwei Tagen knapp 100 PKK-Kämpfer getötet worden sein.

Am Dienstagmorgen wurden in Istanbul zudem Wohnungen von angeblichen PKK-Sympathisanten von der Polizei gestürmt. Informationen der "Welt" zufolge war auch die frühere Wohngemeinschaft von Büsra Mete und Ece Dinc betroffen, zwei jungen Frauen (Link: http://www.welt.de/144540104) , die bei dem Anschlag in Suruc getötet wurden.

Seit fünf Tagen Ausgangssperre

Die von der PKK angekündigte Deeskalation (Link: http://www.welt.de/145669018) hat sich nicht bewahrheitet, ganz im Gegenteil. Mit den jüngsten Anschlägen rücken nur wieder die Bergregionen in den Mittelpunkt. In den vergangenen Wochen hatte die PKK den Krieg in die Städte getragen. Aber das Gerede von "Selbstverwaltung" (Link: http://www.welt.de/145408447) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den kurdischen Gebieten derzeit nicht die Massen auf der Straße sind. Anders als bei den Protesten anlässlich der Belagerung von Kobani im Oktober vergangenen Jahres gibt es keine großen Proteste.

Es sind bewaffnete Kämpfer der PKK-Jugendorganisation YDGH, die sich nach "Welt"-Informationen, unterstützt von PKK-Kämpfern aus den Bergen, in verschiedenen Städten verbarrikadieren und sich bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften liefern. Dabei sind zahlreiche Unbeteiligte ums Leben gekommen.

Mittelpunkt der Auseinandersetzungen ist derzeit die 100.000-Einwohner-Stadt Cizre im Grenzgebiet zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak. Seit Freitag herrscht dort eine Ausgangssperre. Wie kurdische Quellen melden, wurden dabei mindestens drei Zivilisten, darunter ein zwölfjähriges Mädchen getötet. "Wir haben Angst, auf die Straße zu gehen", sagte Leyla Imret (Link: http://www.welt.de/141772265) , die in Norddeutschland aufgewachsene Bürgermeisterin der Stadt, der "Welt" am Telefon.

Sie sei seit Freitag in ihrem Haus eingesperrt, in ihrem Viertel gebe es seither keinen Strom, kein Wasser und kein Telefon. Die Lebensmittelvorräte würden knapp, Kranke und Verletzte könnten nicht versorgt werden und nur die Telefone eines Mobilfunkanbieters würden funktionieren. "Wir haben Angst, auf die Straße zu gehen, die Armee schießt auf alles, was sich bewegt", sagt Imret. Sie würde gerne zwischen den bewaffneten Kämpfern und den Sicherheitskräften vermitteln, um weiteren Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwehren. "Aber weder der Gouverneur noch der Polizeipräsident gehen ans Telefon."