welt.de, 09.09.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article146176146/Wir-wollen-keine-Operationen-wir-wollen-Massaker.html "Wir wollen keine Operationen, wir wollen Massaker" Anhänger der Regierungspartei AKP versuchen zum zweiten Mal in Folge, das Gebäude der Zeitung "Hürriyet" zu stürmen. Im ganzen Land werden Büros der prokurdischen HDP angegriffen und teils angezündet. Von Deniz Yücel Nein, damit, dass die Angreifer noch einmal kommen würden, hat der "Hürriyet"-Chefredakteur Sedat Ergin nicht gerechnet. Aber sie sind gekommen. Nach dem Angriff (Link: http://www.welt.de/146168334) vom Sonntag zog am Dienstagabend erneut eine Menschenmenge von rund hundert Leuten vor das Gebäude der Zeitung im Istanbuler Industrieviertel Bagcilar und versuchte, mit Gewalt einzudringen. "Sie waren mit Lastwagen gekommen und hatten unsere Sicherheitsleute und die wenigen Polizisten an der Einfahrt überwunden. Dann versammelten sie sich im Hof, riefen 'Allahu akbar' und versuchten, die Eingangstür mit Knüppeln, Tritten und Steinen einzuschmeißen. Erst nach 25 Minuten kam die Polizei. Wir hatten Angst um unser Leben." Am Ende war es eine Scheibe der Glastür, die die Angreifer von den Mitarbeitern der Zeitung trennte. Womöglich eine Glastür zwischen Leben und Tod. Jetzt, ein paar Stunden später, wirkt Ergin gefasster. In den Redaktionsräumen werden die Seiten der Zeitung des nächsten Tages abgenommen, andere Redakteure sitzen im Café im Kellergebäude und versuchen, den Schock zu verarbeiten. Die Stimmung ist gelöst, fast überdreht. Im offenen, modernen Redaktionsgebäude sind mehr Mitarbeiter als sonst um diese Zeit kurz nach Mitternacht. Viele "Hürriyet"-Journalisten sind in ihre Redaktion gefahren, nachdem sie von dem Angriff erfahren haben. Einfach, um dort zu sein. "Erdogan hätte das verhindern können" Gegen halb neun war die Lage noch anders. "Da waren vielleicht 15 Kollegen", erzählt Cinar Oskay, der Leiter des Wochenendteils. "Die Spätschicht aus dem Sportteil, ein paar Kollegen aus dem Onlineressort, Putzleute und Sicherheitskräfte." Und auch der Chefredakteur war dabei. Noch während der Angriff im Gange war, lief er durch eine Hintertür zum benachbarten Sitz des Nachrichtensenders CNN-Türk, der ebenfalls zur Dogan-Mediengruppe gehört. Atemlos erschien er in der laufenden Polit-Talksendung des Journalisten Ahmet Hakan und erzählte von den Geschehnissen vor dem Gebäude seiner Zeitung. Die Behörden und die Regierung hätten nicht für die Sicherheit der Zeitung gesorgt, auch jetzt habe die Polizei zu spät eingegriffen, sagte er. Seine Hauptkritik aber galt Recep Tayyip Erdogan: "Wenn der Staatspräsident in seiner heutigen Rede den Angriff verurteilt hätte, hätten sich die Angreifer nicht dazu ermutigt gefühlt, ein zweites Mal zu kommen." Auch sonst habe niemand aus der AKP-Regierung die erste Attacke verurteilt. Man könnte hinzufügen: Wie auch? Schließlich war die Menge am Sonntag von Abdurrahim Boynukalin, einem Abgeordneten der AKP und Vorsitzenden des AKP-Jugendverbandes, angeführt worden. Die "Hürriyet" hatte den Zorn der AKP-Anhänger auf sich gezogen, weil sie ein Erdoagn-Zitat in einen nicht ganz korrekten Zusammenhang gestellt hatte, wofür sie sich inzwischen entschuldigt hat. Allerdings hatte Erdogan den Konzernchef Aydin Dogan schon im Wahlkampf attackiert (Link: http://www.welt.de/141139175) ; in den vergangenen Wochen warfen AKP-nahe Medien der Dogan-Gruppe vor, sie würde mit der PKK zusammenarbeiten. Brennende Parteibüros Doch das war weder die einzige Attacke noch die schlimmste Attacke der Nacht. Nach zwei verheerenden Anschlägen der PKK mit insgesamt 30 toten Soldaten und Polizisten kam es am zweiten Abend in Folge im ganzen Land zu teils organisierten größeren, teils spontanen kleineren Demonstrationen – und zu gewalttätigen Übergriffen auf Büros der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker (HDP). Betroffen war diesmal auch die Parteizentrale in Ankara. Im Anschluss an eine Demonstration auf dem zentralen Kizilay-Platz zogen rund hundert Leute zur HDP-Zentrale, überwanden eine Polizeiabsperrung und bewarfen das Gebäude mit Steinen. Dann drang eine Person ins Gebäude ein und legte einen Brand im Erdgeschoss. Erst nachdem die Menge zerstreut worden war, konnte die Feuerwehr den Brand löschen. Die drei Mitarbeiter der Partei, die sich zu diesem Zeitpunkt im Gebäude befanden, retteten sich auf das Dach des Gebäudes. Mitarbeiter der HDP eilten ebenfalls in ihr Büro; auch die HDP warf der Polizei vor, zu spät eingegriffen zu haben. Auch in anderen Orten kam es auf Übergriffe auf Büros: In Kirsehir (Zentralanatolien) und im besonders bei deutschen Touristen beliebten Urlaubsort Alanya wurden HDP-Gebäude und benachbarte Geschäftsräume niedergebrannt. Abgesehen von dem Brandstifter in Ankara wurde niemand festgenommen, auch nicht vor dem "Hürriyet"-Gebäude. Organisiert wurden die "Demonstrationen gegen den Terror" von der Jugendorganisation der rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), auch bekannt als "Graue Wölfe". Bei der zentralen Demonstration in Istanbul mit rund 10.000 Teilnehmern kam es zwar zu keiner Gewalt, aber dafür waren aus der Menge nicht nur "Allahu akbar"-Rufe zu hören, sondern auch Parolen wie: "Wir wollen keine Operationen, wir wollen Massaker." Hinter dem Angriff auf die "Hürriyet" hingegen werden die "Osmanenvereine" vermutet, eine als militant geltende Nebenvereinigung der AKP. Konflikt droht auf Bevölkerung überzuspringen Mitte Juli hatte die Regierung den seit zwei Jahren währenden Waffenstillstand mit der PKK gebrochen und Stellungen der PKK im Nordirak und in der Türkei bombardiert. Die PKK hat darauf mit zahlreichen Anschlägen reagiert. Mit den jüngsten Entwicklungen droht der Konflikt auf die Bevölkerung überzuspringen. Am Dienstagabend rief der MHP-Chef Devlet Bahceli seine Anhänger dazu auf, bei den Demonstrationen die "demokratischen Grenzen" zu respektieren und wiederholte seine Forderung, den Ausnahmezustand auszurufen. Ähnlich wie kurdische Oppositionelle warf er Erdogan vor, verantwortlich für das Chaos zu sein. Dann verurteilte AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu die Übergriffe: "Es ist inakzeptabel, wenn Medien, Parteien und dem Eigentum ziviler Bürger Schaden zugefügt wird", schrieb er auf Twitter. Über 48 Stunden nach dem ersten Angriff auf die "Hürriyet". "Vielleicht wollen sie mit diesen Angriffen uns dazu zu bringen, dass wir uns mehr damit beschäftigen, damit sie hinterher sagen können, wir würden uns mehr um kaputte Scheiben sorgen als um gefallene Soldaten", sagt ein junger Redakteur. Am Bildschirm ist die Titelseite des nächsten Tages zu sehen. Der Angriff auf die Zeitung taucht dort zwar auf, aber die Schlagzeile hat ein anderes Thema: die am Sonntag in Daglica (Link: http://www.welt.de/146168334) getöteten 16 Soldaten. "Wir haben sie in Tränen verabschiedet", steht da. Am nächsten Morgen wird dieser
Titel zusammen mit der AKP-nahen Tageszeitung "Star" am Kiosk
liegen. Und dort wird ein gewisser Cem Kücük namentlich an die Adresse
des Hürriyet-Kolumnisten und CNN-Türk-Moderators Ahmet Hakan schreiben:
"Wie ein Schizophrenie-Kranker wähnst du dich noch immer in den Tagen,
in denen die Hürriyet das Land regierte. Wenn wir wollen, können wir dich
wie eine Fliege zerquetschen. Du bist nur noch am Leben, weil wir bislang
Mitleid mit dir hatten."
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