Der Standard, 10.09.2015

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Die Türkei sticht in ein irakisches Wespennest

AnalyseGudrun Harrer

Wieder haben türkische Truppen die Grenze zum Irak überschritten. Das kommt öfter vor – diesmal ist die Lage aber besonders instabil

Eine Liste der türkischen Verletzungen der türkisch-irakischen Grenze am Boden, jener zum kurdischen Teil des Irak, zu erstellen wäre ein mühsames Unterfangen: Es gibt sie, dutzende, seit es den türkischen Kampf gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK beziehungsweise deren Rückzugsgebiete im Nordirak gibt. Meist handelt es sich um "hot pursuit": Verfolgungen von PKK-Kommandos über die Grenze auf irakisches Territorium durch türkische Sicherheitskräfte, die mit türkischer Luftunterstützung operieren.

Es kamen aber auch immer wieder größere Militäraktionen vor, die berühmten Frühjahrsoffensiven, besonders in den 1990er-Jahren: Die umfangreichste war die "Operation Hammer" im Jahr 1997, mit einer Beteiligung von bis 50.000 türkischen Soldaten und einer Dauer von fast zwei Monaten. Die letzte dieser Art war "Operation Sun" 2008 mit 10.000 Mann, aber kürzere Inkursionen auf irakisches Territorium gab es auch noch danach, etwa 2011.

Militärische und politische Krise

Diesmal handelt es sich also bisher nur um kurze türkische Vorstöße: aber in eine besonders labile Umgebung. Bagdad, das eigentlich für Grenzverletzungen zuständig wäre – natürlich auch für jene der PKK, nicht nur der Türkei –, steckt in der tiefsten militärischen, aber auch politischen Krise seit 2003. Premier Haidar al-Abadi führt Krieg gegen den "Islamischen Staat" (IS) und wird nebenbei vermehrt durch radikale schiitische Gruppen herausgefordert, die seinen Versuch, ein Machtmonopol des Staats herzustellen, gar nicht goutieren.

Aber auch Erbil, wo die kurdische Regionalregierung sitzt, war schon einmal besser aufgestellt: Auch drei Wochen nach Ablauf des Mandats von Präsident Massud Barzani bleibt die Frage ungelöst, wie es mit der kurdischen Präsidentschaft weitergehen soll. Die kurdische Führung arbeitet zwar weiter wie bisher, die rechtliche Grundlage ist jedoch fragwürdig.

Grabenkämpfe in Erbil

Die Frustration, dass die Kurdenparteien einmal mehr in Grabenkämpfen verharren, obwohl die Region brennt, entfremdet viele Junge – was wiederum der PKK einen eher ungewöhnlichen Zulauf irakischer Kurden beschert. Die PKK war bisher vor allem unter den syrischen Kurden – die stärkste Partei, PYD, ist eine PKK-Schwester – und unter den iranischen Kurden erfolgreich, wo die PJAK als PKK-Filiale gilt, wenngleich sie das selbst dementiert.

Für Barzani sind die türkischen grenzüberschreitenden Militäroperationen immer besonders heikel – denn sein Draht zu Ankara ist gut. Die wirtschaftliche Kooperation mit der Türkei hat zur Prosperität und damit Stabilität, die das irakische Kurdistan bis zum Vormarsch des IS auszeichneten, wesentlich beigetragen. Auch wenn seit dem Kampf um Kobane, als die irakischen Kurden der PYD gegen den IS zu Hilfe eilten, die innerkurdischen Beziehungen besser sind, so sind die ideologischen Gräben zwischen den PKK-Marxisten und ihren Verbündeten auf der einen Seite und den konservativen Nationalisten der KDP (Kurdische Demokratische Partei) von Massud Barzani und deren Satelliten auf der anderen Seite doch keineswegs zugeschüttet.

In den 1990er-Jahren war es sogar so, dass Barzani die türkischen Operationen gegen die PKK zur Schwächung seines direkten Konkurrenten, Jalal Talabani – er wurde später irakischer Staatspräsident – und dessen linker PUK (Patriotische Union Kurdistans) nutzte. KDP und PUK standen sich Mitte der 1990er-Jahre in einem kurzen Bürgerkrieg gegenüber, nachdem der politische Prozess nach der Abkoppelung von der Macht Bagdads nach dem Golfkrieg 1991 zu einem politischen Patt zwischen KPD und PUK geführt hatte.

"Sichere Grenzen"

Als die USA ihre hehren Pläne, den Irak durch den Sturz Saddam Husseins 2003 in eine funktionierende Demokratie umzuwandeln, nach und nach herunterzustufen begannen, überlebte unter anderem ein bescheiden klingender Anspruch: Der Irak sollte ein Land sein, das imstande ist, seine Grenzen zu sichern. Das gelang nicht einmal in der Zeit, in der an die 200.000 Soldaten der "Multi-National Force", die meisten davon aus den USA, im Irak stationiert waren. Im Vergleich mit der Infiltration von Extremisten, die sich mit dem irakischen "Widerstand" kurzschlossen – das war der Grundstock des späteren "Islamischen Staats" –, waren die türkischen Einfälle über die Grenze in den Nordirak unerfreulich, aber letztlich nebensächlich. (Gudrun Harrer, 10.9.2015)

Kein Frieden im kurdischen Wald: Bei Sigire außerhalb von Dohuk im kurdischen Nordirak brannten im August nach einem türkischen Luftangriff auf PKK-Stellungen die Bäume.
foto: reuters/jalal

Kein Frieden im kurdischen Wald: Bei Sigire außerhalb von Dohuk im kurdischen Nordirak brannten im August nach einem türkischen Luftangriff auf PKK-Stellungen die Bäume.