junge Welt, 10.09.2015

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Strategie der Spannung

Generalprobe für den Bürgerkrieg in der Türkei: Schlägertrupps der Regierungspartei AKP machen Jagd auf Kurden und oppositionelle Medien

Von Nick Brauns

Während Armee und Polizei in mehrheitlich kurdisch bewohnten Städten im Osten der Türkei unter Verhängung von Ausgangssperren Staatsterror gegen die Zivilbevölkerung ausüben, setzt Präsident Recep Tayyip Erdogan im Westen des Landes auf offenen Straßenterror durch faschistische Schlägertrupps. Innerhalb von zwei Tagen habe es im gesamten Land mehr als 400 Übergriffe und Anschläge auf Parteibüros, Zeitungsredaktionen, Geschäfte und Wohnhäuser von Kurden sowie Zelte kurdischer Saisonarbeiter gegeben, erklärte der Kovorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Diyarbakir. Allein gegen Büros dieser linken, prokurdischen Partei wurden meist unter den Augen mehr als 300 Anschläge verübt. Mehrere Parteibüros brannten vollständig aus. In der Nacht zum Mittwoch wurde die HDP-Zentrale in Ankara im Anschluss an eine Demonstration gegen »Terrorismus« angegriffen und Feuer im Erdgeschoss gelegt. Lediglich ein Brandstifter wurde hier festgenommen. Dagegen nahm die Polizei in Istanbul, wo zuvor Tausende Anhänger der faschistischen Grauen Wölfe auf einer Kundgebung »Massaker« gegen Kurden gefordert hatten, 50 HDP-Mitglieder fest, die ihre Büros gegen die faschistischen Angriffe verteidigten.

In Izmir, Ankara und anderen westtürkischen Städten zogen Hunderte zum Teil bewaffnete Anhänger der Regierungspartei AKP sowie der faschistischen Grauen Wölfe in mehrheitlich von Kurden oder Aleviten bewohnte Stadtviertel. So wurden in der Kreisstadt Beypazari bei Ankara 27 Menschen verletzt, als ein Lynchmob in der Nacht zum Dienstag Unterkünfte kurdischer Saisonarbeiter attackierte. In Istanbul wurde nach Informationen der sozialistischen Tageszeitung Evrensel bereits am Montag ein junger Mann vor einem Café erstochen, da er auf Kurdisch telefoniert habe.

Am Dienstag abend wurde die Zentrale der nationalistischen, aber Erdogan-kritischen Tageszeitung Hürriyet in Istanbul bereits zum zweiten Mal innerhalb von 48 Stunden von einem Rollkommando der AKP, der Partei des Präsidenten, attackiert. Die rund 100 mit Lastwagen vorgefahrenen und mit Knüppeln bewaffneten Schläger überrannten die wenigen zum Schutz des Gebäudes stationierten Polizisten. Dabei fielen auch Schüsse. Der Mob schwenkte türkische Flaggen und skandierte »Gott ist groß«. Nach 25 Minuten trafen weitere Polizeieinheiten ein, um die Angreifer am Durchbrechen der Eingangstür zu hindern. »Wenn sie das Gebäude betreten hätten, dann weiß ich nicht, ob ich noch hier sein würde«, zeigte sich Hürriyet-Chefredakteur Sedat Ergin anschließend im Sender CNN-Türk besorgt auch um das Leben aller anderen Zeitungsmitarbeiter. In Ankara überfiel ein Schlägertrupp ein Gebäude der Hürriyet. Bereits in der Nacht zum Montag hatten 200 Randalierer unter Führung des Chefs des AKP-Jugendverbandes und Abgeordneten Abdurrahim Boynukalin das Erdgeschoss des Istanbuler Hürriyet-Gebäudes verwüstet, weil sie angeblich den Präsidenten durch eine Meldung der Zeitung beleidigt sahen. Auch der zweite Überfall erfolgte, nachdem Erdogan das Blatt beschuldigt hatte, seine Worte verdreht zu haben. Erst am Mittwoch fand sich Vizeministerpräsident Nurman Kurtulmus als erstes Regierungsmitglied bereit, solche »sehr furchtbaren Angriffe gegen einige Medien« zu verurteilen.

HDP-Chef Demirtas rief die Anhänger seiner Partei dazu auf, die Selbstverteidigung zu organisieren. Es handele sich nicht um spontane Reaktionen aus der Bevölkerung nach Anschlägen der PKK-Guerilla, sondern um die Generalprobe für einen Bürgerkrieg, beschuldigte Demirtas die AKP und den Geheimdienst MIT, die Angriffe zu koordinieren. Erdogan nutze alle Mittel des Staates, um die Botschaft zu vermitteln: »Wenn ihr uns keine 400 Abgeordneten gebt, werdet ihr den Preis dafür bezahlen.« Damit bezog sich Demirtas auf eine Äußerung des Präsidenten im Nachtprogramm eines AKP-nahen Senders am Sonntag. Dort hatte Erdogan bezüglich der Gewalt im Lande erklärt, wenn seine Partei bei der Wahl im Juni die verfassungsändernde Mehrheit von 400 Sitzen für die Einführung eines Präsidialsystems bekommen hätte, wäre die Lage jetzt anders. Die Schuld am Verlust der absoluten Mehrheit der AKP gab der Präsident der über die Zehnprozenthürde ins Parlament eingezogenen HDP. So zeigt sich: der Straßenterror ist Teil einer aus dem Präsidentenpalast mit Blick auf die Neuwahlen am 1. November orchestrierten »Strategie der Spannung«.

Als Auslöser der jüngsten antikurdischen Proteste muss in der Lesart der türkischen Regierung ein Guerillaangriff auf einen Militärkonvoi am Sonntag in der Daglica-Region von Hakkari herhalten. Nach Armeeangaben waren dabei 16, nach PKK-Angaben sogar 31 Soldaten getötet worden. Zwar hatte es in den vergangenen Wochen nach PKK-Angaben bereits eine Reihe ähnlich blutiger Attacken gegeben, die aber von Staatsseite verschwiegen oder bei denen die Opferzahlen heruntergerechnet wurden. Während die Armeeführung auch in diesem Fall noch Stunden nach dem Angriff keine Angaben zu Toten und Verletzten machen wollte, fiel offenbar im Präsidentenpalast der Beschluss, den Tod der Soldaten politisch zu auszunutzen. Das Erdogan-Interview am Sonntag abend gab den Startschuss für den Straßenterror. Die Richtung wies die Titelseite des AKP-nahen Massenblattes Yeni Safak. Über einem Bild von Demirtas prangte die Schlagzeile »Mörder«.