junge Welt, 12.09.2015

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»Erdogan will den Bürgerkrieg provozieren«

In der Türkei werden Polizei, Armee und Nationalisten zu Attacken gegen Linke mobilisiert. Ein Gespräch mit Semra Dogan

Interview: Alp Kayserilioğlu

Semra Dogan ist Kovorsitzende der Partei »Halkların Demokratik Partisi« (HDP) im Stadtteil Kadiköy in Istanbul

Die türkische Regierung hat das Attentat auf junge Sozialisten, bei dem in Suruc am 20. Juli 34 Menschen umkamen, zum Anlaß genommen, massiv gegen Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan vorzugehen. Trifft es zu, wenn man die Lage als bürgerkriegsähnlich beschreibt?

Der Bombenanschlag markiert eine Kehrtwende. Der türkische Staat will mit seiner Reaktion darauf folgendes zu verstehen geben: Türkische Linke, bleibt wo ihr seid! Verbündet Euch nicht mit der kurdischen Befreiungsbewegung, ansonsten bestrafen wir Euch!

Unsere Partei »Halkların Demokratik Partisi«, HDP, ist ein gemeinschaftliches Projekt der Kurden, der Linken und der Demokraten. Wir kämpfen für Gleichheit, Freiheit und Frieden. Seitdem wir bei der Parlamentswahl am 7. Juni 13,2 Prozent der Stimmen bekamen, versucht der Staat, uns zu stoppen. Die Polizei- und Militäroperationen sind Teil des seit längerem vorbereiteten Plans, die demokratischen Kräfte zu ersticken und den Weg zu öffnen für das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem.

In den vergangen Tagen hat sich die Situation dramatisch zugespitzt. Zum einen werden kurdische Städte, die die Autonomie ausgerufen haben, vom Militär belagert – zum anderen gab es etliche Angriffe von kurdischer Seite: In Daglica kamen 16 Soldaten bei einem Anschlag um, wenige Tage später zwölf Polizisten in Igdir. Schaukeln sich die gegenseitigen Angriffe weiter auf?

Zunächst zur Autonomie: Die kurdischen Städte haben sie deswegen ausgerufen, weil sie sich bedroht fühlen. Sie dient der legitimen Selbstverteidigung. Der Staat wollte die Bewohner lynchen. Die Guerrilla hat mehrfach erklärt, dass sie keinen Krieg führen will und sich auf die Selbstverteidigung beschränkt. Aber die Streitkräfte bombardieren die Guerilla und ihren Lebensraum, sie wollen sie zu einem aktiven Krieg provozieren.

Erdogan und seine Partei »Adalet ve Kalkinma Partisi«, AKP, brauchen tote Soldaten. Der Staatspräsident weiß, dass er in die Ecke gedrängt wurde, er versucht jetzt, auf diese Weise nationalistische Stimmen zu mobilisieren, um sich weiter an der Macht zu halten.

Das wird aber sicher nicht klappen, meine Partei und auch das türkische Volk handeln besonnen und umsichtig. In den vergangenen Tagen habe ich hunderte E-Mails bekommen, sie klingen alle ähnlich: »Ich bin zwar kein Mitglied der HDP, stehe aber an Eurer Seite!«

Im Westen der Türkei gibt es immer mehr nationalistische Reaktionen. In den vergangenen Tagen wurden zivile Busse angegriffen und kurdische Arbeiter vom Mob brutal attackiert. Vor wenigen Nächten uferte das aus: Zahlreiche Büros der HDP wurden angegriffen, mehrere sogar in Brand gesteckt. Das Archiv der HDP-Zentrale in Ankara wurde komplett zerstört ...

Erdogan wollte ganz offensichtlich das provozieren, was er schon seit längerem vorhat: den Bürgerkrieg. Seine Anhänger skandierten zur selben Zeit an allen Enden und Ecken des Landes die Parole: »Wir wollen keine Militäreinsätze, wir wollen Massaker!« Es liegt auf der Hand, dass diese Aktionen zentral geplant und ausgeführt wurden.

Auch Ihr HDP-Büro im Istanbuler Stadtteil Kadiköy wurde angegriffen. Wie sieht die Lage jetzt aus?

Wir wollten vor der Presse eine Erklärung abgeben, aber etwa 1.000 Bereitschaftspolizisten haben uns daran gehindert und in das Gebäude gedrängt. Allerdings haben sie auch die Faschisten davon abgehalten, uns anzugreifen. Alle unsere Büros im 1. Bezirk wurden attackiert, in Bagcilar, im 3. Bezirk, wurden die zwei Co-Vorsitzenden festgenommen.

Wenn die Gewalt und der Bürgerkrieg weiter an Intensität zunehmen, können dann überhaupt noch Wahlen stattfinden?

Das ist noch nicht abzusehen. Wir haben uns allerdings für den Wahlkampf etwas Neues einfallen lassen. Wir werden uns dieses Mal auf zwei Felder konzentrieren: Zum einen auf die Menschen, die noch viele Fragezeichen im Kopf haben. Zum anderen wollen wir das Modell der demokratischen Autonomie, der Selbstverteidigung und – verwaltung vorstellen und in jedem Stadtviertel organisieren, in dem wir aktiv sind. Wir werden zuerst die organisierte und danach die demokratische Gesellschaft errichten.